Acht Jahre lang hat sich der Grazer Regisseur Jakob Erwa ("HomeSick") um die Filmrechte an Andreas Steinhöfels Coming-of-Age-Roman "Die Mitte der Welt" bemüht. Im Vorfeld der Wien-Premiere seiner Adaption sprach der 35-jährige Wahlberliner mit der APA über den lockeren Umgang mit der Homosexualität des jungen Protagonisten, die authentischen Sexszenen und die vielen Fans der Vorlage.

 "Die Mitte der Welt" bildet eine offene, tolerante Welt ab, in der ganz selbstverständlich mit einem schwulen Teenager, einer alleinerziehenden Mutter und einem lesbischen Paar umgegangen wird. Wie haben Sie gerade vor diesem Hintergrund die gestrige Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wahrgenommen und eingeordnet?

Jakob M. Erwa: Erstmal ist man in so einer Schockstarre. Mir kam es so vor, als hätten es alle gesehen, aber keiner wollte es wahrhaben. Viele meinten, dass die Zeit gestern stillgestanden ist und wenig Telefone geläutet haben. Die ganze Welt hat kurz den Atem angehalten. Es zeichnet sich ja schon seit Monaten auch hier ab - in Deutschland mit der AfD, in Österreich mit Norbert Hofer. Bei Trump fällt mir das Wort "Groteske" ein. Irgendwann muss doch jemand aufwachen und sagen: "Das war ein Scherz, und jetzt schaut euch mal an, was ihr möglich macht." Gleichzeitig muss man das auch ernst nehmen. Das sind ja keine Vollidioten, die die wählen, das ist eine mächtige Masse, die solchen Menschen zu Macht verhilft. Das ist ein Alarmzeichen, ein Hilfeschrei einer Gesellschaft. Und da muss eine starke Linke endlich umdenken und wahrnehmen.

 Für den 17-jährigen Protagonisten von "Die Mitte der Welt", Phil (gespielt von Louis Hofmann), ist Amerika nicht zuletzt aufgrund des unbekannten amerikanischen Vaters ein Sehnsuchtsort. Würde es ihn auch in Trumps Amerika ziehen?

Erwa: Nein. Aber so sehr ich als Person politisch interessiert bin, ist der Film nur in Zwischentönen politisch, insofern, dass er ein Loblied auf das unangepasste Leben ist. Phil fährt nicht wegen eines politischen Statements nach Amerika, sondern um etwas zu suchen. Nicht nur, um den Vater zu suchen, sondern um sich zu konfrontieren. Nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel.

Im Film verliebt sich Phil in seinen Mitschüler Nicholas (Jannik Schümann). War es von Beginn an Ihr Anliegen, das nicht zu problematisieren und kein großes Coming-out zu inszenieren?

Erwa: Ja, das war für mich klar. Neben den schillernden, vielschichtigen Charakteren und Andreas' großartiger Art zu schreiben war es im Buch für mich ein ganz wichtiger Punkt, dass es eben nicht um ein Coming-out geht. Den selbstverständlichen Umgang mit Homosexualität fand ich wahnsinnig befreiend und besonders, denn es gibt nicht viele solcher Bücher. Ich wollte einen Film machen, der einen schwulen Protagonisten hat, in dem es auch um schwule Liebe geht, aber wo das nicht das Problem darstellt. Es ist ein Coming-of-Age-Film im besten Sinne, aber nicht nur für Phil, sondern auch für die anderen Figuren. Es geht - und daran kann sich jeder finden - um Liebe, Freundschaft und Familie.

 Dennoch haben viele Medien "Die Mitte der Welt" zuletzt auf den Begriff "Schwulenfilm" reduziert. Ärgert Sie das?

Erwa: Heute hat "Die Welt" mit "Coming-Out-Film" getitelt. Aber jeder, der genauer hinschaut, wird merken, dass es nicht darum geht. Natürlich ist es schade, wenn all das, was man immer betont, als Überschrift genommen wird. Aber die Welt besteht hoffentlich nicht nur aus Schlagzeilen, sondern auch aus dem Dazwischen; und die feinen Zwischentöne sind das, was den Film auch ausmacht.

Allein diese Zwischentöne sind heikel genug für Russland, wo einzelne Journalisten von "homosexueller Propaganda" gesprochen haben. Hat es Sie überrascht, dass Ihr Film ausgerechnet vom Moskauer Filmfestival ausgewählt wurde, wo er schließlich Weltpremiere gefeiert hat?

Erwa: Ich war tatsächlich überrascht. Aber das ist bestimmt auch ein Film, mit dem das Festival selbst Presse generiert hat - mit einem europäischen Film, der nicht jedem passen wird, der manchen aufstoßen wird. Entsprechend überlaufen war unsere Pressekonferenz. Schön war, als eine Journalistin fragte: "Wie wurdest du erzogen, dass du so einen Film machst?" Da habe ich gesagt: "Ich wurde so erzogen, dass ich frei denken und frei entscheiden kann, wie und wen ich liebe." Da gab es Applaus unter den 70, 80 Journalisten vor Ort. Das hat mir gezeigt, dass es eine starke Gegenbewegung und ein Interesse gibt. Auch beim Publikumsscreening danach haben uns ganz viele Männer und Frauen dafür gedankt, dass wir den Film gezeigt haben, weil es das dort einfach nicht oft gibt. Und die große Gefahr ist bei dem Festival ja nicht gegeben: Vielleicht 2.000 Menschen haben ihn in Moskau gesehen. Davon wird ein Land nicht schwul. (lacht) Aber es wird berichtet, es ist präsent, und damit ist es ein vorsichtiger Vorstoß.

 Im Idealfall hilft der Film Menschen so, wie es 1998 der Roman geschafft hat?

Erwa: Ja, und nicht nur damals, wie ich erfahren habe. Wir haben ein offenes Casting mit 1.200 Jugendlichen zwischen 16 und 21 gemacht, wo wir zuerst nur ein Porträtfoto und einen kurzen Text verlangt haben, wieso sie sich in der Rolle sehen. Da waren so viele berührende Texte dabei von Jungs, die sagen, das Buch hat ihnen durchs Coming-out geholfen, oder sie haben es vom ersten Freund geschenkt bekommen; oder auch von Mädels, die von den Frauenfiguren ermutigt wurden, stark zu sein und nicht diesen "Ich muss besonders dünn sein und lange Haare haben"-Klischees nachzulaufen. Das Buch ist 20 Jahre alt und hilft Jugendlichen noch heute!

Wann sind Sie erstmals mit dem Roman in Berührung gekommen?

Erwa: Ich habe ihn ein paar Jahre nach Erscheinen gelesen. Meine Mutter hat damals im Literaturhaus Graz gearbeitet und ich war immer sehr lesenah. Ich habe es in ihrem Bücherregal entdeckt, es verschlungen und mich verliebt. Ich hatte dann das Glück, Andreas in Graz bei einer Lesung zu treffen. Ich war gerade im zweiten Jahr an der Filmhochschule, bin mutig zu ihm hingestapft und habe ihn gefragt, wie es mit den Filmrechten aussieht. Die waren dann aber schon längst weg. Wir haben dann E-Mail-Adressen ausgetauscht und ich war geduldig, habe ihm acht Jahre lang E-Mails geschrieben und angerufen, wenn ich in Berlin war. Und nach acht Jahren war es dann tatsächlich so, dass die Rechte wieder frei wurden und er mir angeboten hat, mich drüber herzumachen. Das habe ich mir natürlich nicht zweimal sagen lassen.

War Andreas Steinhöfel in die Drehbuchentwicklung eingebunden?

Erwa: Ich habe ihn gefragt, ob wir das Drehbuch gemeinsam schreiben. Aber er meinte, er hat schon acht Jahre lang Drehbuchfassungen gelesen, die ihn nicht glücklich gemacht haben und ich soll einfach mein Ding machen. Das war für mich super, weil ich dadurch überhaupt keinen Druck hatte. Ich konnte einfach den Film machen, den ich im Buch gelesen habe und die Stellen reinbringen, bei denen ich berührt war oder die mich zum Lachen gebracht haben. Vielleicht war das der Grund, warum es gut geendet hat und realisiert werden konnte. Davor waren sechs Drehbuchautoren dran, die bei einem Buch von 450 Seiten alle etwas anderes spannend finden. Mir war klar, dass ich ausdünnen muss. Mir war wichtig, mich mit Andreas zusammenzusetzen und mir klar zu werden, was die Seele des Buchs ist, das Herz und der Bauch. Das ist vielleicht das Grundrezept einer gelingenden Romanadaption: Dass man sich entfernen darf. Die, die Buchstabe für Buchstabe übersetzen, sind zum Scheitern verurteilt. Die Bilder, die ich schaffe, sind immer meine Interpretation des Geistes der Vorlage. Also musste ich kürzen, streichen und Figuren zusammenlegen. Das Buch spielt in sieben Altersstufen und ich habe es in zwei zusammengelegt, sonst hätten wir bei jedem Charakter sieben Besetzungen haben müssen. Da wären wir heute noch nicht mit dem Casting fertig.

Was ist in Ihren Augen die Seele des Romans?

Erwa: Aufbruch, Konfrontation. Übergeordnet steht das Erwachsenwerden, aber was ist das? Erwachsenwerden ist, dass man erkennt, dass die Welt nicht so einfach ist und man sich auch mit Dingen konfrontieren muss, die vielleicht wehtun. Trotzdem muss man da durch. Dass man Wahrheiten erkennt, die vielleicht nicht nur rosig und schön sind. Jede Figur aus dem Roman wäre für mich einen eigenen Film wert und es wäre spannend, die gleiche Zeit nur aus Diannes oder aus Nicholas' Sicht zu erzählen.

Schon bei Ihrem Debütfilm "Heile Welt" haben Sie sich dem Erwachsenwerden gewidmet, damals aber fast dokumentarisch gearbeitet. Welche Inspirationen gab es für "Die Mitte der Welt"?

Erwa: Ich lese jetzt oft den Vergleich mit Xavier Dolan, weil der auch gerne Slow Motion mit Musik verwendet. Diesen Vergleich hasse ich mittlerweile wahnsinnig. (lacht) Bei "Heile Welt" durfte ich mich die ganze Zeit mit Larry Clark vergleichen lassen. Das sind tolle Filmkünstler, aber wenn man immer verglichen wird, läuft man schnell Gefahr, eine billige Kopie oder ein Abklatsch zu sein. Da sträube ich mich total dagegen. Natürlich wird man beim Filmschauen immer beeinflusst, aber gleichzeitig beeinflusst mich der Alltag, Musik, bildende Kunst oder Ballett. Der Moment mit dem Goldregen ist von diesen leichten, weichen Bewegungen und der Schwerelosigkeit vom Ballett inspiriert.

 Zentral ist auch das assoziative Collagen-Element, wie es Mike Mills zuvor in "Beginners" wunderbar eingesetzt hat.

Erwa: Die Collagen waren mir sehr wichtig, weil man dadurch relativ schnell viel Zeit erzählen kann. Das Buch ist so dick und ich wollte mich nicht ewig mit Exposition aufhalten. Ich wollte diese Welt nicht nur durch Erzählung, sondern auch durch Visualisierung veranschaulichen. Gleichzeitig wollte ich immer ganz nah an Phil sein - so nah, dass wir manchmal in seinen Kopf schauen. Kameramann Ngo The Chau und ich haben versucht, diesen Gefühlen Bilder zu geben und sie transparent zu machen - etwa mit dem Eisberg, der bricht.

 Den Goldregen setzen Sie bei einer von mehreren Sexszenen ein. Sogar erfahrene Schauspieler tun sich damit schwer. Wie ist es Ihnen mit den noch sehr jungen Hauptdarstellern ergangen?

Erwa: Bei einer Sexszene haben ja nicht nur Leute vor der Kamera Schiss, sondern auch der Regisseur, weil es eine große Verantwortung ist. Mit dieser Verantwortung muss man umgehen. Ich wollte es ihnen so leicht wie möglich machen und sie wussten, dass ich es so authentisch wie möglich haben möchte. Wir haben uns deshalb ein Wochenende in einer Hütte einquartiert und uns kennenlernt. Es ging darum, Hemmungen ab- und Vertrauen aufzubauen. Wir haben völlig alltägliche Sachen gemacht, haben gemeinsam gegrillt, sind schwimmen gegangen, haben über uns, über Gefühle und natürlich auch über Sex gesprochen, um alles abzuschütteln, was Ballast ist und uns voneinander trennt. Wir haben auch klassische Vertrauensspiele gemacht, ich habe ihnen die Augen verbunden und sie mussten sich gegenseitig durch das Haus führen oder die Hand des anderen über den eigenen Körper führen. Die haben sich natürlich überall anfassen dürfen und sollen, damit sie nicht am Set zum ersten Mal den Pimmel des anderen in der Hand haben. Jannik meinte, dass es dadurch dann spielerisch, locker und kein Problem mehr war. Er hat heute vor wenigen Leuten weniger Scham als vor Louis, weil sich so eine spielerische Brüderlichkeit eingestellt hat.

Stichwort Verantwortung: Haben Sie Druck empfunden, den Fans des Romans gerecht zu werden?

Erwa: Die Verantwortung war mir bewusst, aber ich wusste gleichzeitig, dass ich es gar nicht allen recht machen kann. Gerade als relativ junger, unerfahrener Autor und Filmemacher kommt man sonst in Teufelsküche.

Wie wichtig war das Gutheißen von Andreas Steinhöfel?

Erwa: Sehr. Mir war vorher gar nicht bewusst, wie sehr. Erst wollte er den Film nur im Kino sehen - dann hat er doch beim Casting angerufen und wollte ein paar Bilder sehen, später war er auch am Set. Der schönste Moment war, als er den Rohschnitt gesehen und gemeint hat, dass all seine Ängste und Sorgen vollkommen unbegründet waren. Er hat sich bei mir dafür bedankt, dass ich den Film gemacht habe. Da hatte ich Gänsehaut. Wenn sich der Schaffer dieser Welt bei dir für die Übersetzung bedankt, ist das echt schön.