Mit Bachs Cello-Suiten bestreitet Yo-Yo Ma am Samstag das letzte Solistenkonzert der Salzburger Festspiele. Der 59-jährige US-Musiker mit chinesischen Wurzeln ist der unbestrittene Weltstar unter den Cellisten. Im APA-Interview spricht er über Musik als Menschenforschung, über Bachs codierte "Idee der Unendlichkeit" und über den Wunsch, der Ideologie mehr Empathie entgegenzusetzen.

Sie haben einmal gesagt, was Sie wirklich interessiert, ist, wie der Mensch funktioniert. Kann man sich dieser Frage auch am Cello nähern?

YO-YO MA: Ja, die Musik ist sogar ein faszinierender Weg, die menschliche Natur zu ergründen. Was man hört, ist ja nur die Spitze des Eisbergs - was die Musik wirklich ausmacht, liegt darunter. Ich bin sehr langsam - deswegen stelle ich mir noch heute die gleichen zwei Fragen, wie als Kind (lacht): Wer hat das gemacht - und warum? Wenn ich noch einmal 18 wäre, dann würde ich vermutlich nicht nur Musik studieren, sondern auch Neurowissenschaft. Ich glaube, das ist das Feld, auf dem unsere Zeit die wichtigsten Entdeckungen machen wird. Wo Fragen beantwortet werden, die wir uns in der Kunst stellen.

Glauben Sie, Bach wäre auch Hirnforscher geworden, wenn er heute leben würde?

YO-YO MA: Das kann sehr gut sein. Wenn ich definieren müsste, wer dieser Mann war, würde ich sagen, er hat das perfekte Equilibrium gefunden zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, zwischen Mitgefühl und distanzierter Betrachtung. Er wäre ein fantastischer Forscher gewesen.

Seine Cello-Suiten haben Sie in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Male gespielt. Wie verändern sie sich?

YO-YO MA: Wie alle wirklich guten Komponisten erreicht Bach zwei Dinge: Eine multidimensionale Welt zu erschaffen und die Idee der Unendlichkeit zu codieren. Wenn man sich die eigene Fantasie vorstellt als viele übereinanderliegende Schichten von Realität - von Erinnerungen und Erfahrungen -, dann wird diese Fantasie immer dichter und komplexer, je länger man durch das Leben geht. Beim Spielen trifft das alles zusammen - und man ergeht sich genussvoll in geringsten Variationen und Permutationen. Bach ist dafür einfach herrlich - ich liebe es, diese Musik zu spielen.

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Sie arbeiten mit zahlreichen Musikern zusammen - bekannte und weniger bekannte. Was meinen Sie, woran es liegt, dass ausgerechnet Sie so berühmt sind? Sind Sie am Instrument so viel besser?

YO-YO MA: Natürlich nicht. Aber ich bin schon ziemlich alt und hatte mehr Zeit, im Rampenlicht zu stehen. Ich spiele seit 52 Jahren Cello, tauche ständig überall wieder auf - irgendwann summiert sich das (lacht). Warum ich? - das habe ich mich auch ganz oft gefragt. Immerhin bin ich Chinese, von mir gibt es 1,2 Milliarden! (lacht). Nein, im Ernst. Ich denke, der Musikbetrieb funktioniert wie eine Zelle. Es gibt immer einen Kern und die Ränder. Etwa, wenn es darum geht, wo man studiert. Ich habe in Juillard und in Harvard studiert. Jemand anderer studiert vielleicht an viel interessanteren Orten - aber am Rand. Die Frage ist nur, wie durchlässig die Zelle ist, damit man von den Rändern an den Kern kommt.

So funktionieren wahrscheinlich alle Teile der Gesellschaft...

YO-YO MA: Absolut, das war schon immer so. Galileo ging zum Papst, um ihn davon zu überzeugen, dass Kepler Recht hatte. Ein unangenehmer Weg ins Zentrum der Macht. Heute haben wir ein riesiges Immigrationsproblem, weil die Menschen von den Rändern wegstreben. Auch für jeden persönlich gibt es dieses Spannungsfeld: Oft muss man an die eigenen Ränder gehen, um in den verschiedenen Lebensphasen Sinn zu finden.

Wo finden Sie Sinn?

YO-YO MA: In jeder Dekade anderswo. Als Teenager war die Herausforderung, in diesem Betrieb einen Platz zu finden. In meinen 20ern war es die Begeisterung, die Welt zu entdecken, in den 30ern die Frage, will ich wirklich die Welt noch mal und noch mal sehen und dafür meine Kinder zu wenig, in den 40ern fühlte ich mich, als würde ich mit dem Kopf an die Wand schlagen, weil sich manche Versprechen nicht einlösten und mich unnütz fühlte gegenüber den vielen Problemen unserer Zeit...

Damals, vor 18 Jahren, haben sie das Silk Road Ensemble gegründet - in dem Musiker verschiedenster Kulturen zusammen spielen und komponieren...welche Rolle kann Musik im globalen Dialog einnehmen?

YO-YO MA: Wir haben heute zu viel Ideologie und zu wenig Empathie. Ich stehe ständig vor der Frage, was kann ich tun? Ich kann natürlich mein Cello-Repertoire erweitern und ein bisschen transkulturelle Musik spielen. Das ist gut. Aber in einer größeren Perspektive: Denken wir an die Zeit der Aufklärung - Kunst, Philosophie, Wissenschaft, gemeinsam im Dienste eines besseren Lebens für alle. Ich möchte, dass wir die Kultur heute als dritte Säule unserer Gesellschaft begreifen, neben der Politik und der Wirtschaft. Kultur ist Ethik, ist Mitgefühl, ist Verständnis. Gerade in einer kapitalistischen Gesellschaft brauchen wir das. Sonst bleibt nur Business übrig - nicht zum Wohle, sondern zum Übel aller.

INTERVIEW: MARIA SCHOLL/APA