Mittwoch, zwölf Uhr: Gleichzeitig starten auf dem Messegelände gezählte 47 Lesungen und Diskussionsrunden. Es ist nicht leicht, alle zu besuchen. Mehr aus Notwehr und zur Erhöhung des Peinfaktors fällt die persönliche Wahl kurz auf den Auftritt von Herrn Eckart von Hirschhausen, einstmals praktischer Arzt, jetzt als schwer auszuhaltender dünnpfiffiger Moderator am Werk.

"Wohin geht die Liebe, wenn sie durch den Magen durch ist?", lautet seine offenbar hartleibig zwischen zwei Buchdeckel gequetschte Frage. Die Konsequenz: rascher Abgang. Denn die Antwort liefert Peter Handke weitaus besser: in seinem "Versuch über den stillen Ort".

Von Stille allerdings kann in all dieser ringsum losgetretenen Wortlawine mit hohem Zuschüttungsfaktor keine Rede sein. Der grenzenlos gehetzte Blick, er gehört zur optischen Grundausstattung der Messebesucher. Keineswegs die Bücher, rund 300.000 an der Zahl sind es, die begutachtet, bestaunt oder, fast völlig undenkbar in all dem Massengedränge, gar aufgeblättert werden wollen.

Hallensprint

Nein, es gilt, zumindest einen Blick auf all die Urheber und Urheberinnen zu ergattern. Mehr als 3300 Lesungen stehen seit Mittwoch und noch bis Sonntag auf dem Programm, an allen Hallenecken und -enden wird mit Lautsprechern gegurgelt. Es ist ein GAU anderer Art: größter Autoren-Umtrieb.

Als klassisches Sinnbild mag Daniel Kehlmann herhalten: Ein Handy am linken Ohr, das zweite am rechten, ein drittes in der Sakko-Tasche; stammelnd, im Hallensprint, von einer Lesung zur nächsten, von einem Interview zum anderen. Maßlos, restlos aus den Fugen geraten ist diese größte Lettern-Invasion der Welt.

Eines unter vielen dazu passenden Lieblingszitaten, aufgeschnappt bei einer Lesung von Ulf Erdmann Ziegler. Zwei Zuhörerinnen, im Flüsterton: "Uff, der sieht ja gar nicht so gut aus." Schroffe Rüge der Sitznachbarin: "Der ist ja auch nicht zum Heiraten da, nur zum Hören."

Vielerlei Empfänge gibt es natürlich auch, rund um die Uhr. Einen der schönsten beschert eine Maori-Truppe aus dem diesjährigen Gastland Neuseeland. Lautstark und archaisch wird ein Kriegstanz zelebriert, mit entblößten Hinterteilen. Dazu ein grimmiger Kommentar eines Tänzers, mit Blick auf einen Banken-Wolkenkratzer, in Originalsprache, aber durch klammheimlich angeeignete Kenntnisse des Maorischen hier in Rohversion wiedergegeben: "Schöne Hütten habt ihr hier. Wir haben gar keine." Rawumms, weiter geht's.

Schwärzarbeit

Die Zweifel, ob denn Bücher tatsächlich geistige Nahrung sein können, nehmen Fahrt auf. Zumal all die Lesungsveranstalter in restlosem Moderatoren-Notstand alles aufgeboten haben, was zu halbwegs flüssiger Rede und zur korrekten Buchhaltung fähig ist. Grundregel: Das jeweilige Cover muss immer in Richtung Publikum gehalten werden; das aber erschwert es zuweilen, sich an den Namen des Interviewpartners zu erinnern. Macht nichts. Auch Autoren haben Hänger.

Das Gedruckte, hier löst es Überdruck aus. Das Größtmaß an Hektik kann wohl der Heyne-Verlag für sich verbuchen. Etliche Mitarbeiter, vielleicht auch ein paar des Weges kommende und flugs angeheuerte Besucher, schwärzen eine Vielzahl an Passagen des noch halbwegs druckfrischen, aber gleich wieder beschlagnahmten Buches von Jörg Kachelmann, einschlägig bekannt durch den Vergewaltigungsprozess. "Recht und Gerechtigkeit", so nennt sich das Werk des früheren ARD-Wetterfrosches. Gerecht wäre es, hätte gleich Arnulf Rainer zielsicher Hand angelegt und die Schwarte zur Gänze geschwärzt. So lugt da und dort doch noch ein Sätzlein durch und kündet von einem ausgewachsenen moralischen Tief aus Nordmost.

Fast tröstlich ist es da, dass sich, inmitten all der schreibenden Prominentenschar, von Martin Walser bis Ken Follett (keine Ahnung, warum sich der jetzt in den Text gedrängt hat), auch Amateurtipper aus der dritten Liga befinden, die völlig fehl am Platz erscheinen. Wie der Ex-Fußballstar, peinliche Trainer und Seitenspringer Lothar Matthäus, der seine Autobiografie "Ganz oder gar nicht" präsentiert. Offen bekennt er: "Das Herz ist manchmal stärker als das Hirn." Ein inhaltlicher Querpass, er macht Lust auf weniger.

Denkwürdig

Als prominenten Messe-Gast kündigt "Bild" dann auch noch Christoph Schlingensief an, der vor zwei Jahren verstarb. Es reicht. Daher zum Ausklang ein Zitat von Jorge Luis Borges: "Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt." Was beweist: In Frankfurt kann dieser großartige Dichter nie und nimmer gewesen sein.