Es läuft die 93. Spielminute und die Uhr zeigt 17.20. Jérome Gondorf schießt den Freistoß gezielt ins Aus, damit endlich Schluss ist. Der letzte Ballkontakt. Der Schiedsrichter pfeift ab. Im eher alt als ehrwürdigen Merck-Stadion am Böllenfalltor brechen alle Dämme. Nicht nur Durchmarsch-Trainer Dirk Schuster, sonst ein ruhiger Zeitgenosse, stürmt wie von Sinnen auf den Platz zu seinen jubelnden Spielern, sondern auch Tausende der 16.500 Fans. Nur Kapitän Aytac Sulu tanzt nicht mit. Der Türke sitzt auf dem Rasen und heult.

Rückkehr nach 33 Jahren

Pfingstsonntag. Ein Geist der anderen Art weht durch die Wissenschaftsstadt. Der SV Darmstadt 98 ist durch einen 1:0-Sieg über den dennoch geretteten FC St.Pauli nach 33 Jahren in die Bundesliga zurückgekehrt. Ein Stadion und eine Stadt befinden sich im friedlichen Ausnahmezustand, ausgelöst durch Tobias Kempe (25). Zur Halbzeit, als Karlsruhe und Kaiserslautern führten, war Darmstadt nur Vierter. Doch der Sohn des einstigen Duisburger Profis Thomas Kempe (391 Bundesligaspiele für den MSV, VfB Stuttgart und VfL Bochum) schoss in dem chancenarmen Spiel mit einem Kunstfreistoß (71.Minute), einem gefühlvollen Aufsetzer, das Tor zum Eintritt in die Belle Etage des deutschen Fußballs. Der dritte Aufstieg nach 1978 und 1981 - damals für jeweils nur eine Saison.

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Diesem Haufen der Unbeugsamen ist durchaus längeres Durchhalten zuzutrauen. Dennoch: Während seine Jungs feuchtfröhlich in den maroden Katakomben unter der Tribüne herumtollten, sagte Schuster, biergeduscht, ganz nüchtern: "Alles andere als nackter Existenzkampf ist absolut utopisch." So weit dachte in der wilden Bierorgie kein Spieler. "Erste Liga, Darmstadt ist dabei", sangen sie. Bayern ist noch weit weg, Ballermann ganz nah. Auf Mallorca geht die Sause weiter. Was die Spieler im Aufstiegsrausch so stammelten, hörte sich unter anderem so an. "Es ist unglaublich, aber wir haben immer daran geglaubt." O-Ton Kempe.

Der Wahnsinn

Derweil wird die Klischee-Kiste geplündert, um mit Platituden auszudrücken, was in den letzten beiden Jahren Unvorstellbares, in der Geschichte des deutschen Fußballs Einmaliges passiert ist: Das Wunder, der Wahnsinn, die Sensation von Darmstadt. Dabei gibt das Vereinswappen, die Lilie, einen so schön poetischen Superlativ her: Das Blumenmärchen. Geschrieben von einem gebürtigen Chemnitzer, der Ende Dezember 2012 angetreten war, den südhessischen Traditionsklub vor dem Absturz in die Viertklassigkeit zu bewahren.

Diese Geschichte vom Fußball-Aschenputtel hätte es nie gegeben, wäre nicht einem anderen Traditionsklub aus dem Rhein-Main-Gebiet, den Kickers aus Offenbach, nach der Saison 2012/13 die Lizenz entzogen worden. Darmstadt 98, sportlich bereits abgestiegen, blieb durch diese Gunst des OFC-Schicksals in der Dritten Liga und startete fortan mit der vorgegebenen Schuster-Philosophie "Mentalität schlägt Qualität" durch: Nach dem Zweitliga-Relegations-Coup gegen Arminia Bielefeld vor einem Jahr, 1:3 im Böllenfalltor, 4:2 in letzter Minute der Nachspielzeit auf der Alm, unaufhaltsam in die Bundesliga.

Neues Stadion

Das neue Rhein-Main-Dreieick des Fußballs, Frankfurt-Mainz-Darmstadt, mit einer maximalen Entfernung von 35 Kilometern zwischen den drei Stadien Commerzbank-, Coface-Arena und Böllenfalltar, stellt die DFL vor ein verzwicktes Termin-Puzzle. Bis das geplante neue Stadion in vielleicht drei Jahren fertig ist, müssen sich Weltmeister aus München und Dortmund mit einem maroden Sportplatz und kargen Kabinen mit dem Charme von Bahnhofs-Waschräumen abfinden.

Es hat sich nichts geändert, seit Lothar Buchmann 1978 erstmals die Lilien in die Bundesliga pflanzte. Der rüstige Achtziger,  der die Nachfolge in seinem Haus in Reichelsheim vor dem Fernseher erlebte, verweist nur auf einen Unterschied. "Ich hatte damals nur Feierabend Fußballer, keinen einzigen Vollprofi." Schon vor 37 schrieben die "Lilien" ein Blumenmärchen.