B undeskanzlerin Angela Merkel, die so gerne auf Fußball-Tribünen mitbibbert, wie sie sagt, kam also gar nicht in Verlegenheit, ihren angekündigten Ukraine-Boykott aufzugeben. Bundestrainer Joachim "Jogi" Löw und das deutsche Team haben das Finale verpasst, und somit durfte Italiens Mario Monti die Boykott-Pläne aller EU-Staats- und Regierungschefs über Bord werfen. Er saß auf der Tribüne des Olympia-Stadions und drückte Italiens Calcio stolz die Daumen. Jener Monti, der vor der EM noch wegen des bis ins Nationalteam vorgedrungenen Wett-Skandals den Profi-Fußball im Stiefelland infrage gestellt hat. "Würde es den Italienern nicht gut tun, wenn wir dieses Spiel für zwei bis drei Jahre komplett stoppen würden?", fragte er. Jetzt ist Monti Fußball-Fan. Weil Politiker versuchen, den Fußball zu annektieren und die Nähe zu den Sympathieträgern mit der Hoffnung zu verbinden, der Funke würde überspringen. So viel zu Montis Sinneswandel.

Genau so schnell hatte sich ja auch die Stimmungslage gegenüber den Gastgeberländern verändert, als der Ball zu rollen begann. Mit einem Schlag rückten alle politischen Verhältnisse ins Abseits. Schewtschenko überstrahlte Timoschenko. Die offensichtlichen Schwächen der Länder wurden aufgefangen durch tolle Stadien, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Michel Platini, der UEFA-Präsident, sagte es zwar berufsbedingt, aber diese Euro war tatsächlich fantastisch. Polen und die Ukraine können stolz sein, sagt Platini. Recht hat er.

Die Euro 2012 hat auch gezeigt, was der Fußball für eine unvergleichliche Kraft hat, um Menschen zu erreichen. Rund zwei Millionen Österreicher haben das Finale in Kiew gesehen. Tausende drängten sich bei Public Viewings. Beiderlei Geschlecht diskutierten Tage und Wochen über ein Turnier, das viele hundert Kilometer entfernt und ohne österreichische Beteiligung stattgefunden hat. Holland war Stammtisch-Thema. In 90 Minuten wurde Löwen-Bändiger Löw zu "Jogi, dem Watschenbär". Mittlerweile weiß auch jeder Fußball-Verweigerer, dass Tiki-Taka kein indianisches Kaubonbon ist. Über die sangesfreudigen Iren wurden ebenso Feuilletons geschrieben wie über den gegelten Ronaldo-Scheitel. Eine EM hat die Kraft, den Alltag eines Kontinents über Wochen zu beeinflussen.

Der Fußball hat auch die Kraft, Ländern wie der Ukraine eine Bühne zu bieten, auf der sie wahrgenommen werden. Aber der Fußball lässt es sich nicht nehmen, selbst den Hauptdarsteller zu spielen. Da bleibt auch für Monti nur eine Gastrolle übrig.

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