Wer wissen will, was Bahnfahren auf Ukrainisch heißt, muss zumindest einmal in einem offenen Schlafwagen Platz genommen haben. "Platskart" heißt die Kategorie, und in einem Waggon finden rund 60 Personen Platz. Der Gang geht mitten durch den Schlafsaal auf Rädern, Privatsphäre gibt es keine. Die zweigeschoßigen Liegen dienen Kindern als Klettergarten, bierbäuchigen älteren Herren als Ausgangspunkt für die Beschnarchung des gesamten Wagens und jungen Frauen zur Zurschaustellung ihrer langen Beine.

König der "Platskart" darf sich nennen, wer die Strecke Lwiw-Donezk in der dritten Schlafwagenklasse überwindet. Für die 1200 Kilometer zwischen der westlichsten und der östlichsten EM-Stadt der Ukraine ist der Zug 23 Stunden unterwegs. Bei Temperaturen um die 30 Grad werden die unklimatisierten Waggons zur Sauna. Aussteigen kann man nur bei Stopps in größeren Städten. Dort lassen sich auch gekühltes Wasser, Bier und köstliche Wareniki, die traditionellen slawischen Teigtaschen, kaufen - direkt auf dem Bahnsteig. Zu lange sollte man sich jedoch nicht Zeit lassen. Denn es ist nicht ratsam, sich mit der Schlafwagenschaffnerin anzulegen. Für jeden Wagen gibt es eine dieser Aufsichtspersonen, die nicht nur das standardmäßige Bahngetränk, den Schwarztee mit Zitrone (Kostenpunkt: 30 Cent), aufbrühen, sondern auch ordentlich resolut werden können, wenn ein Fahrgast nicht nach ihrer Pfeife tanzt.

Wer Platskart fährt, ist billig unterwegs: Die Reise von Lwiw nach Donezk kostet keine 30 Euro. Bekanntschaft mit Land und Leuten inklusive. Aleksandar und Paulina beispielsweise. Das junge Pärchen aus dem zentralukrainischen Winnyzja hat das Wochenende in Lwiw verbracht. Sie bieten mir Erdbeeren und eine köstliche selbst gemachte Pastete an. Über SMS tickern die Ergebnisse der Spiele der Gruppe C herein. Telefone sind die einzigen Verbindungen zur Außenwelt, der Akku darf allerdings nicht ausgehen. Denn die Garnitur aus Sowjetzeiten verfügt über keine Steckdosen.

Kurz nach Mitternacht kommen neue Gäste. Lena und Slavik waren auf einer Hochzeit und fahren nun zurück nach Mariupol am Schwarzen Meer. In gebrochenem Englisch erzählen sie mir von ihrem Lebensmittelladen und ihrem ukrainischen Kleinwagen. Die Gastfreundschaft findet ihre Fortsetzung. Wieder werde ich eingeladen, an der Jause teilzuhaben. Nur über die EM kann ich mit ihnen nicht sprechen. Fußball interessiere sie nicht, meint Lena. Sie würden sich lieber einen guten Fisch braten, anstatt das Match ihres Nationalteams gegen Schweden anzuschauen. Auch das ist die Ukraine zu EM-Zeiten.