Bundespräsident Fischer erinnerte daran, dass Österreich nicht nur Opfer Nazi-Deutschlands war, sondern viele Österreicher auch Unterstützer des NS-Regimes gewesen sind. Dieses Wissen verpflichte Österreich zum Grundsatz "Wehret den Anfängen", sagte Fischer bei seiner Rede in der Hofburg.

Der Einladung des Präsidenten zum Staatsakt in der Wiener Hofburg waren zahlreiche Ehrengäste gefolgt, unter ihnen der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, die Regierungsspitze mit Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) und Kardinal Christoph Schönborn. Bereits zuvor hatten Fischer und die Bundesregierung in der Früh beim Staatsgründungsdenkmal im Schweizergarten Kränze niedergelegt.

In seiner Rede betonte Fischer die Notwendigkeit, niemals darauf zu vergessen, dass zahlreiche Österreicher den "Anschluss" im Jahr 1938 an Hitler-Deutschland bejubelt hatten - und Österreich nicht nur "erstes Opfer" Hitler-Deutschlands gewesen ist. "Besonders erwähnt soll der Umgang mit der NS-Vergangenheit und mit Opfern der NS-Zeit werden, wobei aber auch der konkrete, zeitgeschichtliche Rahmen Beachtung finden muss", so Fischer.

"Viele Österreicherinnen und Österreicher waren ohne Zweifel Gegner und auch Opfer des NS-Systems, doch ein deprimierend großer Teil waren Sympathisanten, Unterstützer und auch rücksichtslose Täter. Dazu kommt, dass bewusstes Wegschauen, Gedankenlosigkeit oder Opportunismus es dem herrschenden Regime erleichtert haben, seine Ziele zu verfolgen und zu erreichen. Das Wissen um diese Wahrheit ist es, das uns zu dem Grundsatz 'Wehret den Anfängen' verpflichtet."

Fischer äußerte sein Bedauern darüber, dass es nach Kriegsende viele Jahre schwergefallen sei, aus dieser Wahrheit "konkrete Gerechtigkeit für eine riesige Zahl von Einzelfällen zu schaffen - und zwar sowohl was die Täter als auch was die Opfer betrifft". So hätte von Anfang an klar sein müssen, dass die neu gegründete Republik nicht nur die Pflicht habe, Kriegsverbrechen und andere Verbrechen zu verfolgen, "sondern dass sie auch Verantwortung und Pflichten gegenüber jenen hat, die schweres Unrecht erlitten haben".

Gleichzeitig betonte Fischer, dass der Sieg der Alliierten für Österreich die Befreiung gebracht hat: "Österreich ist 1945 von einer unmenschlichen verbrecherischen Diktatur befreit worden", so der Präsident. Die Alliierte Besatzung sei zwar eine schwere Last gewesen, aber sie habe auch den Wiederaufbau Österreichs als demokratisches Land mit europäischen Werten nicht verhindert - "und damit den Weg von der Befreiung im Jahr 1945 zur vollen Freiheit im Staatsvertragsjahr 1955 ermöglicht".

Mit der Aufarbeitung der Geschehnisse zeigte sich Fischer trotz allem letztendlich zufrieden: Dies würde die Gesetzgebung der letzten zwei Jahrzehnte beweisen. Er verwies etwa auf die Errichtung des Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus oder die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Auch die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der NS-Militärjustiz hob Fischer positiv hervor.

Mit dem Kriegsende und der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April sei der "Grundstein zur Errichtung unserer Zweiten Republik" gelegt, worden, betonte Fischer. Der Präsident sprach von einer "Wiedergeburt" und einem "Tag des Neubeginns" nach Jahren einer "unmenschlichen Diktatur, eines entsetzlichen Krieges und des unfassbaren Holocaust". Die Demokratie sei die "beste und menschenwürdigste Lebens- und Regierungsform", dies hätten die sieben Jahrzehnte seit 1945 gelehrt.

Besonders begrüßt wurde seitens Fischers der deutsche Bundespräsident Gauck, mit diesem nehme zum ersten Mal auch das Staatsoberhaupt eines Nachbarlandes an den Feierlichkeiten teil: "Ich empfinde es als einen besonderen Moment, dass wir diesen Geburtstag der Zweiten Republik gemeinsam mit dem höchsten Repräsentanten jenes Landes begehen, mit dessen Geschichte wir in vielfältiger Weise so eng - zeitweise auch verhängnisvoll - verbunden waren, während wir heute mit neuem Selbstverständnis gemeinsam an einer friedlichen europäischen Zukunft arbeiten."

Er selbst habe das Kriegsende als Kind erlebt, sagte Fischer. Zwar hatte seine Familie damals von den konkreten Ereignissen in Wien wenig Ahnung, "aber eines hat sich mir als Kind tief eingeprägt: dass Krieg etwas ganz Entsetzliches ist und dass Unrecht und Gewalt Zwillinge sind."

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck betonte die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. "Wenn keine Garantie mehr besteht, dass überall in Europa das Völkerrecht geachtet wird, dann haben die Mitglieder der EU neu über die gemeinsame Sicherheit nachzudenken", sagte er mit Blick auf die Ukraine.

Die österreichische Regierungsspitze betonte das Gemeinsame in der Politik nach 1945. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) sprach in einer Aussendung vom "partnerschaftlichen Aufbau der Großparteien, die ihre Lehren aus dem Bürgerkrieg von 1934 gezogen hatten".

Mit dem Gründungsakt der Republik vor 70 Jahren habe das neue Österreich unter Karl Renner ein "starkes Lebenszeichen" gesetzt, so Faymann. Das Land sei "mit einem großen Arbeitseinsatz der Bevölkerung und einem gemeinsamen, partnerschaftlichen Aufbau der Großparteien, die ihre Lehren aus dem Bürgerkrieg von 1934 gezogen hatten", wieder aufgebaut worden.

Auch Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) betonte das Gemeinsame der Großparteien nach dem Kriegsende: "Die Gründung der Zweiten Republik war die Konsequenz aus den Geschehnissen zwischen 1933 und 1945. Sie war nicht nur aus den Erfahrungen während der Hitlerdiktatur gespeist, sondern auch aus dem Bewusstsein, dass das Lagerdenken der Zwischenkriegszeit überwunden werden musste", hatte der ÖVP-Chef bereits am Vortag des Staatsaktes via Aussendung erklärt.

Faymann sagte, heute habe man die Verpflichtung, "den nachkommenden Generationen nicht nur die gleichen Chancen auf ein Leben in Freiheit, Wohlstand und Selbstbestimmung zu ermöglichen" - sondern man müsse jenen Österreichern, die keinen Krieg erlebt haben, "auch vermitteln, dass diese Werte nicht selbstverständlich sind und immer wieder neu behauptet werden müssen". Auch Mitterlehner gemahnte daran, die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen und die Verantwortung Österreichs und die Gräueltaten des Nazi-Regimes niemals zu vergessen.

Auch die Oppositionsparteien erinnerten an den denkwürdigen Tag vor 70 Jahren. Die Grüne Bundessprecherin Eva Glawischnig sagte in einer Aussendung, der 70. Jahrestag sei "ein Grund zur Freude, aber auch ein Grund zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus". Sie betonte, dass die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit - "vom Jubel am Heldenplatz über den Anschluss Österreichs an Nazideutschland bis zum Massenmord an den Juden, Roma und Sinti" - erst spät eingesetzt habe und noch immer nicht abgeschlossen sei.

Glawischnig nahm - wie auch Bundespräsident Heinz Fischer in seiner Rede zuvor - Bezug auf die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer. "Europa hat an seiner Außengrenze wieder Mauern hochgezogen", so die Grünen-Chefin. Damit nehme man tausende Tote im Mittelmeer und an anderen Grenzen in Kauf. "Das Friedensprojekt Europa darf Schutzsuchende nicht abweisen, es muss vielmehr ein sicherer Hafen für sie sein." Fischer hatte zuvor in seiner Rede erklärt, er sei sich sicher, "dass man noch in Jahrzehnten von diesen Flüchtlingskatastrophen, aber auch von der Art wie wir darauf reagiert haben, sprechen wird".

Auch SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder erinnerte an die "besondere Verantwortung" Österreichs. Denn gerade die Erinnerung an Verfolgung und Flucht in der NS-Zeit gebe Österreich den Auftrag, "Verantwortung zu übernehmen und solidarisch zu sein mit jenen Menschen, die heute unsere Hilfe brauchen".

ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka hatte im Vorfeld des Staatsaktes betont, Kriege und Konflikte an den EU-Außengrenzen - wie etwa in der Ukraine oder im Falle des IS-Terrors - würden die Bedeutung der Werte des Friedens und der Freiheit wieder zunehmend in Erinnerung rufen. Es gelte, Angriffen auf die freie Welt mit Entschlossenheit entgegenzutreten. Dies werde nur gemeinsam in einem starken und vereinten Europa gelingen.

Auch NEOS und das Team Stronach gedachten der Republiksgründung. Der Tag sei ein Grund zu feiern, aber auch ein Grund, in Dankbarkeit zurückzudenken - "an die, die für unsere Freiheit gekämpft haben", erklärte NEOS Klubobmann Matthias Strolz. Team Stronach-Klubobfrau Waltraud Dietrich betonte, das "Gleichgewicht des Friedens" in Europa könne nur dann erhalten bleiben, "wenn der soziale Friede gewahrt ist".