Im Juni 2005 dürfte der seit 1945 anhaltende Aufstieg Österreichs seinen Höhepunkt erreicht haben. Das deutsche Nachrichtenmagazin „Stern“ erklärte das kleine Nachbarland kurzerhand zum „besseren Deutschland“, mit der Begründung: „Während in Deutschland der Frust grassiert, Neid zur neuen Nationaltugend heranwächst, die Arbeitslosigkeit steigt, geht es in der Alpenrepublik voran“. Mit guter Stimmung, mehr Wirtschaftswachstum und jeder Menge Jobs hätten die rückständigen Österreicher die Deutschen überflügelt.

Schlusslicht mit Franzosen und Italienern

Zehn Jahre später zählt Österreich zu den wachstumsschwächsten Volkswirtschaften Europas. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie zuletzt 1953, Frust und Neid haben beste Chancen, zu den ganz großen Wachstumsbranchen aufzusteigen. Auffallend ist, dass Österreich nicht nur gegenüber Deutschland an Boden verliert, sondern gegenüber fast allen EU-Ländern. Wer wissen will, wie ein derart steiler Abstieg in so kurzer Zeit zu erklären ist, findet in der Wachstumsprognose der EU-Kommission wichtige Hinweise. An deren Spitze liegen ausschließlich Länder, die in den vergangenen Jahren Reformen verwirklicht und ihre zerrütteten Haushalte in Ordnung gebracht haben. Allen voran jene Volkswirtschaften, die in unseren Breiten gerne als „Austeritätsopfer“ beklagt werden, wie Irland, Spanien oder Portugal. Aber auch Staaten wie Schweden und Deutschland.

Am unteren Ende der Wachstumstabelle finden sich wiederum jene Volkswirtschaften, deren politische Führung seit Jahren versucht, die Wirtschaft mit hohen Staatsausgaben in Schwung zu bringen. Darunter Österreich, das sich mit den europäischen Problembären Italien und Frankreich um die rote Wachstumslaterne streitet. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil prominente Ökonomen ja seit Jahren versprechen, dass uns allein hoch gehaltene öffentliche Ausgaben aus dem konjunkturellen Jammertal führen werden, während Einsparungen auf Staatsseite die Misere nur noch verschärften.

Das Gegenteil davon ist der Fall. Warum? Weil erhöhte Staatsausgaben zur Konjunkturbelebung in erster Linie an politisch bestens vernetzte Lobbying-Gruppen und personalintensive Branchen gehen, die sich selten durch hohe Produktivität auszeichnen. Österreich ist ein hervorragendes Beispiel dafür: Seit 1980 haben sich die Staatsschulden verzehnfacht, die (nominelle) Wirtschaftsleistung hat sich im selben Zeitraum aber nur vervierfacht.

Regierungen hingegen, die statt neue Schulden anzuhäufen unpopuläre Reformen umsetzen, werden zwar selten geliebt, sorgen aber für Zuversicht und Sicherheit. Den Bürgern wird signalisiert, dass die Staatsführung Probleme nicht nur wahrnimmt, sondern auch zu lösen bereit ist. Wie die deutsche Regierung, die mitten in der Krise den Staatshaushalt sanierte. Nicht über höhere Steuern, sondern über gebremste öffentliche Ausgaben. Das geschah unter lauten Buhrufen renommierter Ökonomen, die noch immer vor den verheerenden Folgen dieser „okkulten Sparpolitik“ warnen. Zu Unrecht, wie sich zeigt. Die deutsche Wirtschaft brummt trotz staatlicher Sparprogramme, und das Land weist echte Budgetüberschüsse aus.

Wohlstand mit Reformen absichern

Natürlich ist dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble die Gratisgeldpolitik der EZB zu Hilfe gekommen. Aber nicht nur ihm, sondern auch seinem österreichischen Amtskollegen. Deutschland nutzte die Niedrigzinsen zum Abbau der öffentlichen Kosten, Österreich zur Ausweitung der Staatsausgaben. Während der deutsche Nachbar heute darüber brütet, ob er die erzielten Haushaltsüberschüsse für Investitionen in die Infrastruktur, den Schuldenabbau oder für Steuersenkungen verwendet, verteilt Österreich „Gratiszahnspangen“ und ruft angesichts rasant steigender Arbeitslosenzahlen nach staatlichen Konjunkturprogrammen. Und das, obwohl die in jüngerer Vergangenheit auf die Reise geschickten Wachstumspakete ihr Ziel offensichtlich klar verfehlten.

Der Staat kann nämlich keine Konjunktur „machen“, wäre es anders, würden heute Frankreich und Österreich als Wachstumslokomotiven gefeiert, nicht Deutschland.
Wie nachhaltig sich der Wohlstand eines Landes mit Reformen absichern lässt, zeigt auch das Beispiel Schweden. Vor gut 20 Jahren haben die schwedischen Sozialdemokraten den Staatshaushalt ebenfalls mitten in der Krise über gekürzte Ausgaben in Ordnung gebracht. Das Pensionsantrittsalter wurde kontinuierlich an die steigende Lebenserwartung angepasst, der Wohlfahrtsstaat behutsam korrigiert, aber nicht zerstört. Das alles mit dem Segen der Gewerkschaften, die erkannt hatten, dass eine stark steigende Staatsverschuldung das Fundament jeder Demokratie unterspült: Politische Entscheidungen werden nicht mehr in den nationalen Parlamenten, sondern von den Geldgebern getroffen. Heute hat Schweden zwar eine ähnlich hohe Steuer- und Abgabenquote wie Österreich, aber nur mehr halb so hohe Schulden, ein ausgeglichenes Budget und ein finanziell abgesichertes Pensionssystem. All das zeigt, dass Österreich in den vergangenen Jahren gar nicht so viel falsch gemacht, aber so viel Richtiges unterlassen hat.

Zählte Österreich nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu den am stärksten von Hunger bedrohten Ländern Europas, ist es heute einer der lebenswertesten Landstriche. Erst durch den sagenhaften Aufstieg wird klar, was die politische Führung Österreichs durch ihr konsequentes Zaudern aufs Spiel zu setzen bereit ist. All das, was die Bürger in 70 Jahren mit Fleiß und Einsatz erreicht haben.
Dabei spüren die Menschen, dass das „Modell Österreich“ ins Rutschen geraten ist. Das schürt die Angst vor dem Abstieg. Ja, die Bevölkerung sehnt sich nach Sicherheit, aber auch nach Zuversicht. Die zu erzeugen bedarf keiner übermenschlichen Leistung. Allein, wenn die Regierung damit begänne, den Reformstau aufzulösen, die bleierne Stimmung würde Aufbruchsstimmung weichen. Anknüpfungspunkte fänden sich jede Menge. Von der Absicherung des öffentlichen Pensionssystems über die Sanierung des defizitären Staatshaushalts, der Absenkung der Arbeitskosten bis zu einem Umbau des ungenügenden Bildungssystems.

Die Alternative dazu heißt übrigens nicht Stabilität, sondern Griechenland.

Franz Schellhorn war Wirtschaftsredakteur und
leitet heute den Think-Tank „Agenda Austria"