Die EU verstärkt die Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage. Bei einem Gipfel am heutigen Sonntag in Brüssel wollen die EU-Staats- und Regierungschefs mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu einen Aktionsplan vereinbaren, um den Flüchtlingszustrom einzudämmen. Die meisten Flüchtlinge kommen über die Türkei nach Europa.

Das heutige Treffen hätten die deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker für 14.00 Uhr arrangiert, berichtete die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" unter Berufung auf Verhandlungskreise. Teilnehmen werden der Zeitung zufolge die Regierungschefs aus Belgien, Deutschland, den Niederlanden, Luxemburg, Österreich, Schweden, Finnland und Griechenland. Auch Frankreich sei eingebunden, Staatschef Francois Hollande könne aber erst um 16.00 Uhr nach Brüssel kommen.

400.000 Flüchtlinge, verteilt auf acht Länder

Eine Gruppe EU-Staaten, darunter Österreich, will der Türkei laut einem Medienbericht die Aufnahme von 400.000 Flüchtlingen anbieten, wenn Ankara im Gegenzug die ungesteuerte Weiterreise der Menschen in die EU stoppt. Vor Beginn des EU-Türkei-Gipfels am heutigen Sonntag in Brüssel wolle sich die Gruppe der "Willigen" über den Plan abstimmen, berichtet die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung".

Gegen die verbindliche Aufnahme von Flüchtlingen aus der Türkei gibt es unter vielen EU-Staaten Widerstand, deswegen hat sich der Zeitung zufolge nun eine Gruppe von Ländern zusammengetan, die zu dem Kontingent bereit wären. Im Gespräch sei eine Größenordnung von rund 400.000 Menschen, was einem Drittel der Zahl der Flüchtlinge entspreche, die heuer aus der Türkei über den Westbalkan in die EU gereist seien. Wie die Zeitung weiter berichtet, soll Juncker am Sonntag den Auftrag erhalten, bis zum EU-Gipfel in zweieinhalb Wochen einen Verteilungsplan auszuarbeiten.

Fragen und Antworten

Die Flüchtlingskrise macht es also möglich: Die Europäische Union will mit dem Beitrittskandidaten Türkei deutlich enger zusammenarbeiten als bisher. Ein Gipfeltreffen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Brüssel soll dafür das Startsignal geben. Auf dem Tisch liegt ein gemeinsamer Aktionsplan, der beiden Seiten konkrete Aufgaben zuweist.

Warum ist der Türkei-Sondergipfel so ungewöhnlich?

Alle 28 EU-Mitglieder schicken zu dem Treffen ihren Staats- oder Regierungschef. Im diplomatischen Jargon heißt das "Vollformat". Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies so gewollt. Üblicherweise werden Gespräche mit Nicht-Mitgliedsländern in viel kleinerer Runde abgehalten. Für die Türkei bedeutet dies also viel Prestige. Ob sie auch künftig solche "großen Gipfel" bekommt, ist aber noch offen.

Warum wird die Türkei so hofiert?

Die Türkei ist für Flüchtlinge das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Europa. Seit 2011 fanden nach offiziellen Angaben aus Ankara allein 2,2 Millionen Syrer Schutz. Die EU möchte erreichen, dass die Menschen in der Türkei bleiben. So sollen mehr Schulen für Flüchtlingskinder eingerichtet werden. Der Aktionsplan sieht auch einen härteren Kampf gegen illegale Migration vor: Ankara will seine Küsten besser schützen und effektiver gegen Schlepper vorgehen.

Wie hoch ist der Preis für die Europäer?

In der Gipfel-Erklärung soll die Zahl von drei Milliarden Euro genannt werden. Wer von den 28 Europäern wie viel davon übernimmt, muss erst noch geklärt werden. Die EU-Kommission schlug vor, selbst 500 Millionen zu schultern. 2,5 Milliarden müssten von den Mitgliedstaaten kommen.

Bekommt Ankara einen Scheck?

So einfach geht es nicht. Das Geld ist zur Hilfe für syrische Flüchtlinge bestimmt. Es muss konkrete Projekte geben. Die Umsetzung des Aktionsplans soll laufend überprüft werden. Bei den Finanzen sind zentrale Fragen noch nicht geklärt - zum Beispiel, für welchen Zeitraum der Milliardenbetrag gilt. Die Türkei fordert dem Vernehmen nach drei Milliarden Euro jedes Jahr.

Wird mit der Türkei auch über Flüchtlings-Kontingente gesprochen?

Das Thema soll in der Abschlusserklärung erwähnt werden, aber ohne Zahlen. Die EU-Staaten hatten sich bereits darauf verständigt, 40.000 Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten aufzunehmen. Der Anteil der Türkei daran ist offen.

Welche Vorteile winken sonst noch für die Türkei?

Die EU will die Lockerung der Visapflicht für die 78 Millionen Türken beschleunigen. Das ist ein wichtiges Signal. Die Türkei will aber eigentlich mehr - eine feste Zusage, dass ihre Bürger frei einreisen können und einen Zeitplan dafür. Zudem will man einen neuen Anlauf nehmen, die Blockaden im Beitrittsprozess zu überwinden. Noch vor Weihnachten wird wohl das Kapitel 17 über Wirtschaft und Finanzen eröffnet - obwohl die Türkei in diesem Bereich zuletzt keine Fortschritte gemacht hat. Hinter den Kulissen wird bereits die Öffnung weiterer Kapitel vorbereitet.

Was macht die Beziehungen so schwierig?

Die Europäer kritisieren, dass in der Türkei Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt werden. Erst wurden dort Haftbefehle gegen den Chefredakteur und einen weiteren Journalisten der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" erlassen. Auch Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit sind seit längerem ein Thema. Die Türkei ihrerseits bemängelt, nach zehn Jahren Verhandlungen immer noch keine Perspektive auf den Beitritt zu haben. Auch Merkel tritt lediglich für eine "privilegierte Partnerschaft" ein. Über allem liegt der langjährige Konflikt zwischen der Türkei und dem EU-Mitglied Zypern. Die Insel ist seit der türkischen Invasion im Nordteil 1974 geteilt.

Einige europäische Politiker sehen das Schengen-System für den passfreien Reiseverkehr in Gefahr. Ist das ein Thema beim Gipfel?

Das ist keine Debatte, die mit der Türkei geführt wird. EU-Spitzen wie Ratspräsident Donald Tusk sagen aber bei jedem Treffen der Staats- und Regierungschefs, dass die EU ihre Außengrenzen besser schützen muss, um Schengen zu retten.

Keine Narrenfreiheit für Erdogan 

Kritik an der Türkei kommt vor dem Gipfel von den deutschen Grünen und der FDP. Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) sagte der Zeitung über die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan: "Die Pressefreiheit wird hinter Gitter gesperrt. Zu dieser Entdemokratisierung zu schweigen, wäre auch in unserem Interesse dramatisch gefährlich." FDP-Chef Christian Lindner sagte: "Die Türkei wird zwar als Partner gebraucht, aber Erdogan darf das nicht als Narrenfreiheit missverstehen."

Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei gelten als alles andere als einfach. Wiederholt wurden Einschränkungen der Presse-und Meinungsfreiheit sowie Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei kritisiert. So waren erst am Donnerstag zwei regierungskritische Journalisten unter anderem wegen angeblicher Spionage festgenommen worden. Die Türkei ihrerseits bemängelte bisher, keine Perspektive auf den gewünschten EU-Beitritt zu haben.

Gleichwohl plädierte auch der deutsche Justizminister Heiko Maas für mehr Zusammenarbeit mit der Türkei. "Sie mag nicht immer ein einfacher Partner sein, spielt bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise aber eine Schlüsselrolle", sagte der SPD-Politiker der "Welt am Sonntag". "Europäische Lösungen werden nur dann greifen, wenn wir auch mit der Türkei zu konkreten Vereinbarungen kommen."

Die EU müsse die Kontrolle über ihre Außengrenzen zurückgewinnen. "Asylanträge müssen wieder dort gestellt und bearbeitet werden, wo ein Flüchtling erstmals den Boden eines EU-Mitglieds betritt", so Maas. "Das stellt die Länder an den Außengrenzen vor große Herausforderungen. Deswegen haben sie unsere Unterstützung verdient. Das gilt auch für die Türkei."