Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat die Flüchtlingskrise als einen "Bewährungsprobe historischen Ausmaßes" bezeichnet. Im EU-Parlament in Straßburg erklärte sie bei einem gemeinsamen Auftritt mit Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande, Europa könne sich nicht von globalen Ereignissen entkoppeln.

Ebenso wie Hollande rief sie zu Solidarität unter den EU-Staaten bei der Aufteilung der Flüchtlinge auf. Das Dichtmachen von nationalen Grenzen sei der falsche Weg. "Abschottungen und Abriegelungen im Zeitalter des Internet sind eine Illusion." Damit würde kein Problem gelöst, sondern es entstünden damit noch gravierendere Schwierigkeiten. Außerdem "gehen damit unsere Werte verloren. Wenn wir das missachten, verraten wir uns selbst, nicht mehr und nicht weniger."

Keine Abschottung Deutschlands

Auch in der am Mittwochabend ausgestrahlten ARD-Talkshow von Anne Will wandte sich die deutsche Kanzlerin erneut gegen die Forderung, Deutschland gegen Flüchtlinge abzuschotten. "Ich möchte mich nicht an einem Wettbewerb beteiligen, wer ist am unfreundlichsten zu Flüchtlingen, dann werden sie schon nicht kommen", sagte Merkel. "Deutschland ist ein Land, das die Flüchtlinge freundlich empfängt. Darauf bin ich stolz." Eine Schließung der Grenzen oder ein Aufnahmestopp kämen nicht in Frage: "Das wird nicht klappen."

Zurückweisung nach Österreich

Bayern setzte dazu jedoch einen Kontrapunkt. Wegen der vielen Neuankömmlinge erwägt Bayern drastische Maßnahmen und droht mit der Rückweisung von Flüchtlingen direkt an der Grenze: "Sollte unser Nachbarland Österreich weiterhin das europäische Recht missachten, muss auch Deutschland prüfen, ob es Flüchtlinge nicht unmittelbar an der österreichischen Grenze zurückweist", sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann der "Süddeutschen Zeitung". In Österreich seien die Flüchtlinge bereits sicher, sagte Herrmann laut der Donnerstagsausgabe der Zeitung. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hatte zuvor mit "Notwehr" gedroht, sollte die deutsche Bundesregierung keine Schritte zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen unternehmen.

In einer Sondersitzung will das bayerische Kabinett an diesem Freitag über weitere Schritte beraten. Zuletzt war erwogen worden, Flüchtlinge einfach per Zug in andere Bundesländer in Deutschland weiterzuschicken. Zudem plädiert die Regierungspartei CSU von Herrmann und Seehofer für "Transitzonen" an den Binnengrenzen innerhalb Deutschlands, um bestimmte Flüchtlinge direkt an der Grenze abweisen zu können.

Eine gigantische Erfolgsgeschichte

Angesichts der deutschen Vereinigung vor 25 Jahren und dem Zusammenwachsen von Europa durch die Osterweiterung sei es mit einer Kraftanstrengung für alle gelungen, nicht weniger, sondern mehr an Wohlstand zu erreichen, sagte Merkel. Auch nicht weniger, sondern ein mehr an Freiheit sei erreicht worden. Darüber hinaus sei Toleranz ein wertvolles Gut. "Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Ost und West war eine gigantische Erfolgsgeschichte", so Merkel. Dies "zeigt, wozu Europäer in der Lage sind, wenn sie nur wollen, wenn sie Mut beweisen und zusammen halten".

Die deutsche Kanzlerin betonte, es gebe "überhaupt keinen Grund, sich von Rückschlägen entmutigen zu lassen". Auch die Erfahrungen aus der Finanzkrise, "die wir gemeinsam bewältigt haben, dass wir stärker daraus hervorgegangen sind, als wir in sie hineingegangen sind".

Die Flüchtlingskrise und der Konflikt in der Ukraine hätten auch gezeigt, dass "wir unsere Entwicklungspolitik stärker darauf ausrichten sollen, Konflikte zu lösen und die Fluchtursachen zu bekämpfen. Dazu müssen wir uns finanziell deutlich stärker engagieren als heute." All dies "wird Europa verändern". Dazu zähle auch, die wirtschaftspolitische Koordinierung der Eurozone zu verbessen und den "Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion zu beheben".

Merkel: "Niemand verlässt seine Heimat leichtfertig"

Merkel verwies darauf, dass heute noch nie so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung seien wie nach dem Zweiten Weltkrieg. "60 Millionen Menschen. Niemand verlässt seine Heimat leichtfertig, auch nicht die, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen." Aber "denen müssen wir auch sagen, dass sie nicht bei uns bleiben können, damit wir jenen wirklich helfen können, die tatsächlich Schutz vor Krieg und Verfolgung brauchen".

Bei der Lösung der Krise werde die Türkei eine "Schlüsselrolle" spielen. Die Türkei sei unmittelbarer Nachbar der EU und der Ausgangspunkt der "irregulären" Migration. Gleichzeitig leiste die Türkei "außergewöhnliche Arbeit für zwei Millionen Flüchtlinge".

Das Dublin-System sieht Merkel als de facto gescheitert an. "In der jetzigen Praxis ist es obsolet, seien wir ehrlich. Es war in der Tat gut gemeint, aber unterm Strich hat sich das als nicht tragfähig erwiesen. Ich setze mich für ein neues Vorgehen für Fairness und Solidarität in der Lastenverteilung" ein. Abgesehen davon dürften Flüchtlinge aber nicht als "anonyme Masse behandelt werden, egal, ob sie eine Bleibeperspektive haben oder nicht".