Herr Botschafter Hussam Al Husseini, Ihr Land beherbergt 1,4 Millionen syrische Flüchtlinge und kennt deren Nöte. Hat Sie die Flüchtlingswelle nach Europa überrascht?
HUSSAM AL HUSSEINI: Es ist kein Geheimnis, dass wir vor vielen Dingen gewarnt haben, die jetzt passieren. König Abdullah und die Regierung haben davor gewarnt, keine politische Lösung in Syrien anzustreben. Wir haben lange davor gewarnt, dass das Vakuum in Syrien ein fruchtbarer Grund für Terrororganisationen sein werde. Wir dachten damals an Al Kaida, wir haben nicht an etwas so Monströses gedacht wie den Islamischen Staat.

Sie haben auch vor Flüchtlingswellen gewarnt?
AL HUSSEINI: Ja. Wir brauchen die internationale Gemeinschaft, um die Last zu tragen. Leider war die internationale Unterstützung für die Aufnahme dieser Flüchtlinge nie ausreichend. Jordanien hat 1,4 Millionen Syrer im Land. 650.000 haben sich vom UNHCR registrieren lassen.

Wo leben die anderen? Sind sie bei Freunden oder Angehörigen untergekommen?
AL HUSSEINI: Wir haben fünf Lager in Jordanien. Dort leben etwa 110.000 Flüchtlinge. Der Rest lebt unter der Bevölkerung.

Und wie hat die jordanische Bevölkerung auf diese Belastung reagiert?
AL HUSSEINI: Weil die meisten Menschen ohne Geld kamen, hat die Regierung beschlossen, medizinische Versorgung gratis zur Verfügung zu stellen wegen der Gefahr, dass Epidemien ausbrechen. Sie können sich vorstellen, was das bedeutet: Da sitzt ein Jordanier beim Arzt und neben ihm ein syrischer Flüchtling. Der Jordanier muss bezahlen, der Flüchtling nicht. Dasselbe gilt für die Schule. Wir haben 130.000 syrische Kinder gratis aufgenommen. Dafür mussten wir wieder den Schichtbetrieb einführen, den wir 1995 abgeschafft hatten. Wir brauchen auch zwei Schichten von Lehrern, die haben wir aber nicht. Und das kostet natürlich auch Geld.

Außerdem kann diese Phase Jahre dauern.
AL HUSSEINI: Bisher sind alle Flüchtlinge lange geblieben, 500.000 aus dem Irak, zwei Millionen Palästinenser.

Das erwarten Sie nun auch für die Syrer?
AL HUSSEINI: Ich fürchte, ja.

Und wie reagieren die Menschen persönlich? Es gibt ja Neid in jeder Gesellschaft.
AL HUSSEINI: Bisher haben wir keine solchen Spannungen. Unsere Menschen haben Verständnis für die Leiden der Syrer. Trotzdem ist die Anforderung manchmal jenseits unserer Möglichkeiten.

In welchem Lebensbereich ist der Druck am stärksten zu spüren?
AL HUSSEINI: Es gibt kaum noch billige Wohnungen und der Arbeitsmarkt ist überlastet. Syrer sind auf unserem Arbeitsmarkt gefragt.

Und sie dürfen arbeiten?
AL HUSSEINI: Ja, was können wir tun unter diesen Umständen? Darunter leiden viele unserer Arbeitnehmer. Auch die Energieversorgung und die Wasserversorgung sind ein Problem. Wir müssen 95 Prozent aller Energie importieren. Wir sind das drittärmste Land hinsichtlich der Wasserreserven. Das bedeutet eine große Last für unsere Regierung. Unser eigener Entwicklungsplan für das Land musste verlangsamt werden.

Bekommen Sie genug Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft?
AL HUSSEINI: Wir schätzen, dass wir für die syrischen Flüchtlinge nur 28 Prozent dessen, was wir für sie brauchen, von der internationalen Gemeinschaft zurückbekommen.

Hat man Ihnen mehr versprochen?
AL HUSSEINI: Wir haben nicht einmal Versprechungen bekommen. Das sind die üblichen Beiträge. Dennoch haben wir unsere Grenzen nicht geschlossen. Die Situation in Europa wirft vielleicht ein neues Licht auf unsere Lage. Europa hat an die 500 Millionen Einwohner und rechnet mit weniger als einer halben Million Flüchtlingen. Stellen Sie sich die Lage in meinem Land vor, das 6,5 Millionen Einwohner hat.

Wenn Sie Diskussionen bei uns und auf europäischer Ebene verfolgen, was empfinden Sie da?
AL HUSSEINI: Wir verstehen Ihre Sorgen. Niemand will viele Flüchtlinge aufnehmen. Aber das ist eine Verantwortung, die wir alle miteinander teilen sollten. Wenn die Syrer Syrien verlassen, verlassen sie ihr Land in Richtung Rest der Welt. Deshalb ist die Welt für sie verantwortlich.

Sie meinen, psychologisch verlässt er seine Heimat in Richtung Welt?
AL HUSSEINI: Genau. Auch moralisch es ist nicht nur unsere Verantwortung. Es ist unser aller Verantwortung. Wir müssen für unsere Prinzipien und Werte geradestehen und helfen. Es geht aber nicht nur um Europa, sondern um die ganze Welt. Wären die Flüchtlinge gerecht verteilt, wären in unserem Land nicht mehr als 10.000. Das Mindeste ist, dass die Welt diese Last mit uns teilt und uns hilft.

Jordanien denkt nicht daran, die Grenzen zu schließen?
AL HUSSEINI: Wenn wir das täten, was würde passieren? Was wäre die einzige andere Option für die Fliehenden? Sie könnten nur zurückgehen und eine dieser Terrororganisationen unterstützen. Wir tragen lieber die Last, als diese Menschen Opfer dieser radikalen Gruppen werden zu lassen. Die warten nur darauf, dass wir die Grenze schließen.

Verstehen Sie, dass Menschen diesen Kontrollverlust durch offene Grenzen fürchten?
AL HUSSEINI: Ich muss der österreichischen Bevölkerung und Regierung ein Kompliment aussprechen für die Art, wie sie mit dieser Situation umgegangen sind. Die Art, wie Österreich auf diese Fluchtwelle reagiert hat, zeigt eine sehr noble Position, sehr viel Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit. Wenn Menschen in Not sind, wenden sie sich an Menschen, die Prinzipien und Werte vertreten. Deswegen kamen sie zu Ihnen. Wir verstehen kulturelle, wirtschaftliche und soziale Sorgen, die Sie haben könnten. Aber das Wichtigste ist, dass Europa seine Werte nicht aufgibt.

Sie meinen, es gibt mehr zu gewinnen, als zu verlieren?
AL HUSSEINI: Absolut. Wir dürfen uns nicht selbst verlieren als menschliche Wesen.

THOMAS GÖTZ