Ungarn hatte am Freitagabend entschieden, die tagelang am Bahnhof von Budapest festsitzenden Flüchtlinge mit Bussen an die österreichische Grenze zu bringen. Österreich und Deutschland erklärten sich daraufhin bereit, die Flüchtlinge einreisen zu lassen. Auch wenn die Krise in Ungarn in der vergangenen Nacht "Gott sei Dank sehr menschlich gelöst" worden sei, müsse dies "uns schon auch die Augen öffnen, wie verfahren die Situation in Europa mittlerweile ist", erklärte Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP). Er "hoffe, dass es jetzt ein Erwachen gibt, dass es so nicht weiter gehen kann."

Kurz drängte erneut auf eine europäische Antwort der Flüchtlingskrise. Die Flüchtlingszahlen würden weiter massiv ansteigen. "Jeder, der glaubt, dass man dieses Problem aussitzen kann, der irrt sich." Das grenzkontrollfreie Schengen-System funktioniere nur dadurch, dass es sichere Außengrenzen gebe, sagte Kurz, der vor zurückkehrenden Syrien-Kämpfern warnte: "Wir haben hier auch ein Sicherheitsproblem, wenn unsere Außengrenzen nicht funktionieren."

Zugleich betonte Kurz, dass die am Freitagabend getroffene Vereinbarung mit Ungarn und Deutschland auch vorsehe, dass das sogenannte Dublin-System "weiter gilt". Dieses sieht vor, dass Asylverfahren im Land der Erstaufnahme abgewickelt werden und würde bedeuten, dass Flüchtlinge künftig weiter nach Ungarn zurückgeschickt werden könnten. Deutschland hatte diese Regel vergangene Woche für Syrer de facto ausgesetzt. Österreich lässt die Flüchtlinge seitdem ungehindert weiterreisen.

Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sagte nach Beratungen mit seinen EU-Kollegen in Luxemburg, er wolle nicht über "Quoten" reden und ob diese freiwillig oder verpflichtend seien, aber es brauche in der gegenwärtigen Krise eine Lastenteilung. Zwar könne man schon sagen, dass man das Flüchtlingsproblem außerhalb der Grenzen Europas lösen müsse, entgegnete Asselborn der Argumentation vieler Außenminister. Doch gebe es in der EU Flüchtlinge, die unter die Genfer Konvention fallen. "Die können nicht alle in einem Land bleiben."

Wie am Sonntag bekannt wurde, soll Österreich nach dem jüngsten Verteilungsschlüssel der EU-Kommission zusätzlich 3.640 Flüchtlinge aus Italien, Griechenland und Ungarn aufnehmen. Dies geht aus aktuellen Berechnungen hervor, welche die EU-Kommission am kommenden Mittwoch für einen neuerlichen Notfall-Mechanismus vorstellen will.

Insgesamt will die EU-Kommission - zusätzlich zu den bereits vorgeschlagenen 40.000 - weitere 120.000 Asylbewerber aus unsicheren Herkunftsländern wie Syrien innerhalb der EU umverteilen. Davon sollen 54.000 aus Ungarn, 50.400 aus Griechenland und 15.600 aus Italien kommen. Österreich soll nach Informationen der APA laut den Plänen der EU-Kommission davon 1.638 aus Ungarn aufnehmen, 1.529 aus Griechenland und 473 aus Italien.

Über den Verteilungsschlüssel sollen die EU-Innenminister am 14. Oktober darüber, sagte Asselborn. Er schloss weitere Sondertreffen nicht aus. Man sei bereit, diese zu organisieren, sagte er. "Aber das reicht nicht aus, Treffen zu organisieren. Es bedarf auch eines politischen Willens." Ein Sondergipfel wurde immer lauter gefordert. Auch der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach sich dafür aus. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und Außenminister Kurz haben beide einen raschen EU-Sondergipfel zur Flüchtlingskrise verlangt. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat bisher allerdings noch keinen Sondergipfel einberufen.

Von ungarischer Seite kam erneut Kritik an der Europäischen Union: Die Lage in Ungarn sei "erstens Folge einer gescheiterten Migrationspolitik der Europäischen Union und zweitens einer Reihe von unverantwortlichen Erklärungen durch europäische Politiker", sagte Außenminister Peter Szijjarto. In der Hoffnung auf eine Weiterreise nach Deutschland seien die in Ungarn ankommenden Flüchtlinge "immer aggressiver geworden" und hätten sich geweigert, in Aufnahmelager zu gehen, um sich nach den EU-Vorgaben registrieren zu lassen.

Der slowakische Außenminister Miroslav Lajcak warnte vor einer "Sogwirkung", wenn Europa die Regeln zu Grenzsicherung und Asyl über Bord werfe. Denn Europas Vorgehen werde dann von den Flüchtlingen "als Einladung" verstanden. Er sei nicht gegen Quoten zur Flüchtlingsverteilung, aber "wir müssen aufpassen. Das ist keine willkürliche bürokratische Entscheidung." Auch sei angesichts des anhaltenden Flüchtlingsstroms nicht klar, um welche Zahlen es gehe.

Litauen warnte vor dem Ende des freien Reiseverkehrs im Schengenraum, der Grenzüberschreitungen zwischen den meisten europäischen Staaten ohne Pass ermöglicht. Anstatt über Quoten zu diskutieren, müsse die EU bei dem Problem "an die Wurzeln gehen", um die Lage in den Griff zu bekommen, sagte Minister Linas Linkevicius. "Die Zeit spielt gegen uns, wir müssen uns beeilen."

Der italienische Außenminister Paolo Gentiloni warnte unterdessen davor, dass die Spaltung innerhalb der EU mit einigen osteuropäischen Ländern in punkto Flüchtlingsnotstand zum akuten Problem werden könnte. "In der EU gibt es weiterhin einzelne Länder, die denken, sie könnten das Flüchtlingsproblem bewältigen, indem sie die Verantwortung auf andere abladen", sagte Italiens.

Die EU-Außenminister beraten am zweiten Tag ihres Treffens in Luxemburg unter anderem über mehr Hilfe Europas für Transit- und Herkunftsländer der Flüchtlinge. Deshalb nehmen auch die Minister aus Transitländern von außerhalb der EU wie Serbien, Mazedonien und der Türkei teil. Bei den Beratungen geht es auch um die von der EU angestrebte gemeinsame Liste von sicheren Herkunfts- und Transitländern, in die Migranten abgeschoben werden können. Entscheidungen werden für Samstag keine erwartet. In Österreich gelten bereits alle Länder auf dem Westbalkan, die eine EU-Mitgliedschaft anstreben, als sicherer Herkunftsstaaten: Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und der Kosovo. Zudem diskutieren die EU-Minister über den Plan, den europäischen Militäreinsatz im Mittelmeer gegen Schlepperbanden auszuweiten.

Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak kritisierte unterdessen, das Flüchtlingschaos dieser Tage in Ungarn und Österreich sei dem "Unsinn" der Dublin-III-Verordnung zu verdanken. Im APA-Gespräch pochte er erneut auf die Vergemeinschaftung des Asylwesens - also ein gemeinsames Verfahren nach einheitlichem Standard mit Kontaktstellen in oder nahe den Herkunftsländern der Schutzsuchenden.