Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat es wieder getan: Er hat die Türken erneut dazu aufgerufen, die Regierungspartei AKP zu wählen, und damit steht erneut ein Verstoß gegen die Verfassung im Raum. Die Bürger, sagte Erdogan bei einer Rede am Sonntag, sollten sich am 1. November zu einer Entscheidung durchringen, um so die Unruhen zu beenden, zitierte ihn die Tageszeitung "Today's Zaman".

Zwar nannte Erdogan während der Rede nicht den Namen der Partei, aber natürlich meinte er mit seiner Empfehlung die von ihm mitgegründete, islamisch-konservative AKP. In der gleichen Rede bezichtigte Erdogan erneut die prokurdische HDP, die militante Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu unterstützen. Damit führte er das fort, was er seit Monaten schon macht: Als Staatspräsident eigentlich zur Neutralität verpflichtet, war er vor den Parlamentswahlen vom 7. Juni über Wochen hinweg täglich auf Tour, um für die AKP zu werben, und gegen die Kurden zu ätzen.

Doch trotz des unermüdlichen Wahlkämpfers Erdogan verlor die AKP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit, und die HDP schaffte mit 13 Prozent den Einzug ins Parlament. Wochenlange Koalitionsgespräche scheiterten, bis zu den Neuwahlen am 7. November lenkt nun eine Übergangsregierung die Staatsgeschäfte.

Ausnahmezustand

Unmittelbar nach der Wahlschlappe begann Erdogan damit, die kleine prokurdische Oppositionspartei zu kriminalisieren und in die Nähe des Terrorismus zu rücken. Nach dem Terroranschlag in der türkisch-syrischen Grenzstadt Suruc am 20. Juli begann Ankara damit, Stellungen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Nordirak und der PKK zu bombardieren. Die kurdischen Rebellen schlagen zurück, im Osten der Türkei herrscht seitdem der Ausnahmezustand.

So werden die Nachrichten von getöteten türkischen Soldaten und umgekommenen PKK-Kämpfern beherrscht, vom Friedensprozess zwischen Ankara und der PKK ist überhaupt keine Rede mehr. Seit vergangenem Freitag beteiligt sich Ankara mit Luftangriffen erstmals am Kampf des internationalen Bündnisses gegen den IS. Während dieser Atmosphäre der Gewalt sei es nicht möglich, im Südosten des Landes einen Wahlkampf zu machen, zitierte am Mittwoch die Tageszeitung "Today's Zaman" den Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas.

Leere Textspalten

Die ohnehin schon angespannte Stimmung wird dadurch angeheizt, dass die Regierung weiterhin gegen regierungskritische Medien vorgeht. So erschien am Dienstag die Tageszeitung "Sözcu" mit leeren Textspalten. Die Journalisten schrieben, dass sie genug hätten von den nicht enden wollenden Anzeigen des Präsidenten Erdogan, der sie wegen Beleidigung mithilfe von "willfährigen" Staatsanwälten verklage. "Wenn 'Sözcü' schweigt, schweigt die Türkei", schrieben die Journalisten, und zeigten sich kampfbereit: "Uns kann man nicht zum Schweigen bringen."

Am selben Tag wurden bei einer landesweiten Razzia insgesamt sieben Journalisten festgenommen, die für Medien der Kozak-Ipek-Holding arbeiten. Die zu dem Mischkonzern gehörende regierungskritische Tageszeitung "Bugün" hatte in ihrer Dienstagsausgabe über angebliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an den IS berichtet. Vor allem steht die Kozak-Ipek-Holding dem im US-Exil lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen nahe, welcher von einem Verbündeten zu einem Erzfeind Erdogans geworden ist.

Präsidialsystem

All die Angriffe gegen die Islamisten, die PKK, die HDP und Journalisten sehen Beobachter als ein Manöver, mit dem Erogan nach dem herben Dämpfer vom Juni bei den Neuwahlen doch noch mit seiner mitgegründeten AKP eine satte Mehrheit erreichen kann. Mit einem zweiten Anlauf zur Schaffung eines Präsidialsystems will er seine innenpolitische Machtbasis festigen.

Doch einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll zufolge wird die AKP bei der Neuwahl am 1. November erneut keine Regierungsmehrheit erhalten. Die Umfrage kommt gar zu dem Ergebnis, dass nicht die AKP, sondern die HDP als eigentlicher Gewinner der Wahlen hervorgehen könnte. Denn laut Metropoll wird die AKP 41,7 Prozent der Stimmen holen, und damit nur minimal zulegen, verglichen mit den knapp 40,9 Prozent der letzten Parlamentswahl vom Juni. Die HDP, so Metropoll, legt zu, und würde nun sogar 14,7, der Stimmen erhalten.

Der HDP-Parlamentarier Mithat Sancar glaubt sogar, dass seine Partei bei den Neuwahlen noch mehr hinzugewinnen wird: "Ich nehme an, dass wir bei den nächsten Wahlen 17 Prozent holen werden", sagte er am Mittwoch auf CNN-Türk. Die Moderatorin fragte angesichts der Schätzung sichtlich irritiert, ob er dies tatsächlich glaube. Sancar lächelt leicht, und antwortet: "Niemand hat geglaubt, dass wir die zehn Prozent holen würden, an 13 Prozent hatte überhaupt niemand gedacht. Die 17 Prozent halte ich für realistisch."