Die Demonstranten rufen "Apo! Apo! Apo!". Sie schwenken Flaggen mit Bildern von "Apo" - so nennen PKK-Anhänger Abdullah Öcalan, den inhaftierten Chef der als Terrorgruppe eingestuften kurdischen PKK. Es ist Montagabend gegen sieben Uhr (18.00 Uhr MESZ), und tausende Menschen demonstrieren in Istanbul wenige Minuten vom Taksim-Platz entfernt gegen die Syrien- und Kurdenpolitik der AKP-Regierung.

Trotz des aggressiven Sprechchores ist die Stimmung weitgehend friedlich. Nach Polizeiangaben sind rund 200 Polizisten hier auf der Einkaufstraße auf der europäischen Seite der Millionenmetropole im Einsatz, es kreisen Polizeihubschrauber über den Demonstranten, zwei Wasserwerfer stehen bereit. Die Stimmen der Demonstranten werden bestimmter. Sie rufen auf Kurmandschi, einem kurdischen Dialekt, Parolen wie "Die AKP hat die Terroristen unterstützt" oder "Wir sind das Volk".

Selbstmordanschlag

Am Montagvormittag hatte eine Explosion die türkische Stadt Suruc nahe der Grenze zu Syrien erschüttert und mindestens 30 Menschen das Leben gekostet. Knapp 100 weitere wurden nach Behördenangaben verletzt. Die Detonation ging offenbar auf einen Selbstmordanschlag zurück. Ankara vermutete hinter der Explosion die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), wie Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte. Sollte sich dies bewahrheiten, wäre es der erste IS-Anschlag in der Türkei.

Mindestens 31 Tote bei mutmaßlichem IS-Anschlag im türkischen Suruc
Mindestens 31 Tote bei mutmaßlichem IS-Anschlag im türkischen Suruc © AP

Verübt wurde der Anschlag bei einem Anti-IS-Treffen, bei dem sich rund 300 linksgerichtete und prokurdische Teilnehmer versammelt hatten. Es waren viele Studenten darunter, die der sozialistischen Jugendorganisation SGDF angehören. Sie wollten jetzt in ihren Sommerferien dabei helfen, die durch IS-Attacken weitgehend zerstörte, nur wenige Kilometer entfernte syrische Grenzstadt Kobane wiederaufzubauen.

"Sie wollten in Kobane Parks einrichten, Kindern Spielzeug schenken und Wände bemalen", sagte Alp Altinors von der Kurdenpartei HDP. In sozialen Netzwerken wie Facebook werden Bilder gepostet, die Spielzeug zeigen, das die Aktivisten Kindern nach Kobane bringen wollten.

Schwerster Anschlag seit zwei Jahren

Es ist der schwerste Anschlag in der Türkei, seit im Mai 2013 in der türkisch-syrischen Grenzstadt Reyhanli zwei Autobomben explodierten und 51 Menschen in den Tod rissen. Ankara machte damals die verbotene linksextreme türkische Untergrundorganisation DHKP-C mit Kontakten zum syrischen Regime für die Tat verantwortlich. Der syrische Präsident Bashar al-Assad wies den Vorwurf zurück.

Seit Jahren betreibt Ankara den Sturz Assads, bisher ohne Erfolg. Immer wieder sagen Experten, dass Ankara in der Hoffnung, den syrischen Präsidenten doch noch zu Fall zu bringen, es zugelassen habe, dass die türkisch-syrische Grenzregion ein Zentrum für den islamistischen Terrorismus geworden sei. HDP-Chef Selahattin Demirtas machte am Montag auch die AKP-Regierung für den Anschlag mitverantwortlich: "Die Staaten und Regime, die dem IS und ähnlichen brutalen Einheiten Unterstützung zukommen lassen, haben eine Mitschuld an dieser Barbarei. Die politischen Führer Ankaras, die die HDP täglich bedrohen und nicht genug Mut haben, den IS anzuklagen, sind ebenfalls mitschuldig an dieser Barbarei", wird Demirtas von der Tageszeitung "Hürriyet" zitiert.

Es ist mittlerweile acht Uhr abends (19.00 Uhr MESZ), die Demonstranten auf der Istanbuler Einkaufsmeile schwenken immer noch ihre Flaggen. Immer noch ist es friedlich, in Sprechchören rufen die Menschen "Rojava!" und recken dabei ihre Fäuste in die Höhe. Rojava ist eine quasi autonome Region im Nordosten Syriens , wo die Kurden in der Mehrheit sind.

Dann werden die Demonstranten von der Polizei aufgefordert, den Platz zu verlassen. Sie antworten mit Buhrufen, die ersten umliegenden Geschäfte lassen vorsorglich die Rollläden herunter, Polizisten setzen Gasmasken auf. Beide Seiten wollen nicht weichen.

Um halb neun (19.30 MESZ) wird das erste Tränengas gegen die friedlichen Demonstranten eingesetzt, die Wasserwerfer zielen in die Menge. Die Menschen rennen weg, sie fliehen vor dem Gas in die Seitenstraßen und in die Geschäfte. Innerhalb weniger Minuten löst die Polizei die Demonstration auf.