Alle wüssten aber, wie schwierig es sei, Verträge zu ändern, erläuterte Merkel. Sie habe aber auch in der Europa-Frage stets die Haltung vertreten, entscheidend sei, das sachlich inhaltlich Notwendige zu tun und nicht Formfragen an den Beginn der Diskussionen zu stellen. Deutschland habe die klare Hoffnung, dass Großbritannien in der EU bleibe.

Cameron will darüber die Briten bei einem Referendum bis Ende 2017 abstimmen lassen. Er hält eine Änderung der EU-Verträge für notwendig, um Großbritannien in der Europäischen Union zu halten. Nach dem Treffen mit der Christdemokratin Merkel sagte der Konservative, die britischen Interessen seien am besten in der EU zu verwirklichen - allerdings auf der Basis von Reformen. Den Sorgen der Bürger in Großbritannien müsse Rechnung getragen werden.

Vor dem Referendum müsse über die Inhalte der notwendigen Reformen gesprochen werden, etwa was Freizügigkeit und angeblichen Missbrauch von Sozialleistungen angehe. "Es kommt auf die Substanz an", sagte Cameron. Erst danach werde über das Verfahren entschieden. "Für mich ist klar, dass diese Substanz Veränderungen an den Verträgen verlangt." Dies werde ein schwieriger Prozess.

Cameron schloss einen Austritt Großbritanniens aus der EU nicht aus, aber er hoffe auf Flexibilität Deutschlands und der anderen Partner. "Europa muss ausreichend flexibel sein, wie ein Netzwerk, nicht wie ein Block."

Zuvor am Freitag hatte sich Cameron in Warschau eine Ablehnung der polnischen Regierung in Sachen Änderung der EU-Verträge geholt. "Vertragsänderungen oder die Einführung diskriminierender Regelungen sind Rote Linien für Polen", sagte der polnische Europaminister Rafal Trzaskowski am Freitag im britischen Sender BBC mit Blick auf britische Wünsche, die Freizügigkeit für EU-Bürger einzuschränken. "Falls jedes Land mit Sonderwünschen für die EU-Politik kommt, wäre dies das Ende der europäischen Konstruktion, sie würde zusammenbrechen", warnte er.

Cameron traf in der polnischen Hauptstadt Ministerpräsidentin Ewa Kopacz. Knapp eine Million Polen arbeiten in Großbritannien. Cameron will unter anderem den Zugang von EU-Bürgern zu den britischen Sozialleistungen erschweren. Auf Twitter schrieb Trzaskowski, Kopacz habe Cameron gesagt, dass Polen "jede Diskriminierung" ablehne. Cameron und Kopacz seien aber einer Meinung gewesen, dass die Union dereguliert werden müsse. Zudem müssten der Wettbewerb und die Rolle der nationalen Parlamente gestärkt werden. Der Europaminister sprach von einem "guten Treffen".

Der britische Premierminister David Cameron lotet derzeit in mehreren europäischen Hauptstädten aus, wie groß die Bereitschaft ist, auf die britischen Forderungen nach Vertragsänderungen und einer Rückverlagerung von EU-Kompetenzen auf nationale Ebene einzugehen. Am gestrigen Donnerstag war er in den Niederlanden; in Paris traf er den französischen Präsidenten Francois Hollande. Hollande sagte dabei, es sei "das Interesse Europas und Großbritanniens, zusammen zu sein". Er sicherte "Respekt" für das bevorstehende Referendum der Briten über die EU-Mitgliedschaft des Landes zu. Außenminister Laurent Fabius bezeichnete das Volksabstimmungs-Vorhaben freilich als "sehr riskant". "Ich finde den Prozess ziemlich gefährlich", sagte Fabius im Sender France Inter.

Die deutsche Wirtschaft forderte von Cameron am Freitag ein klares Europa-Bekenntnis. Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt deutlich an Gewicht verlieren. "Ein Brexit führt uns alle in die Sackgasse", sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Markus Kerber, am Freitag in Berlin. Nationale Alleingänge seien falsch. "Denn 2050 wird aller Voraussicht nach kein europäisches Land allein mehr zu den neun größten Volkswirtschaften weltweit zählen." Die Briten würden sich selbst ins Fleisch schneiden, weil Investoren auf die Größe eines Marktes schauten. Ein eigenständiger Markt mit 64 Millionen Briten stünde dann im Schatten des europäischen Binnenmarktes mit seinen aktuell 500 Millionen Verbrauchern, meinte Kerber.

Der Leiter der Europäischen Akademie Berlin, Eckard Stratenschulte, warf Cameron "Erpressung" der EU und der britischen Bürger vor. Cameron komme ohne konkrete Forderungen nach Berlin, über die man reden könne, sagte der Politologe am Freitag im Deutschlandradio Kultur. Was es bedeute, die EU besser und unbürokratischer zu machen, darüber gebe es "weitestgehend Stillschweigen aus London".

Merkel unterstützte auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Cameron die Forderung des deutschen Wirtschaftsministers und Vizekanzler Sigmar Gabriel nach einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. "Ich teile das", sagte sie. Schon heute gebe es unterschiedliche Grade der Zusammenarbeit, etwa mit der Eurozone und dem Schengen-Abkommen. Allerdings müsse der Prozess der weiteren Integration offen sein für jeden. "Wir wollen niemanden ausschließen", sagte die Kanzlerin. Gabriel hatte in einem Gastbeitrag für die "Bild"-Zeitung (Freitag) betont: "Eine starke EU braucht Länder, die vorangehen." Einige - vor allem Frankreich und Deutschland - müssten voran gehen. Andere könnten nachkommen, wenn sie so weit seien. "Nicht jeder muss alles mitmachen."