Die EU-Außenminister reagierten auf diese Drohung empört. Aber der damalige maltesische Außenminister Tonio Borg warnte, dass man Gaddafis Drohung sehr ernstnehmen müsse, denn Libyen sei das Schlüsselland für den Weg afrikanischer Flüchtlinge in die EU. Weniger als 500 Kilometer trennen Tripolis von Sizilien, bis zur italienischen Insel Lampedusa sind es 300 Kilometer.

Heute bestätigt sich Borgs Warnung. Denn nach Angaben der EU-Grenzschützer startet ein Großteil der Flüchtlinge, die aus dem Mittelmeer aufgefangen werden, ihre Überfahrt von der libyschen Küste aus. Dies führt zu immer mehr Katastrophen wie dem Tod Hunderter Menschen in den vergangenen Tagen. Und Deutschlands Innenminister Thomas de Maiziere berichtete am Montag im CDU-Bundesvorstand nach Angaben von Teilnehmern, dass in Libyen rund eine Million Menschen auf die Überfahrt warteten.

Dies hat mit Gaddafi zu tun: 2011 entschloss sich eine westliche Militärallianz, die von Frankreich und Großbritannien angeführt wurde, zum Sturz des langjährigen Machthabers. Deutschland hielt sich damals zurück und erntete viel Kritik für die Entscheidung, sich im UNO-Sicherheitsrat bei einer Abstimmung über einen Militäreinsatz gegen Gaddafi zu enthalten.

Die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel des Landes erfüllten sich nicht. Seither versinkt das Land im Chaos und zerfällt in viele Einzelteile unter Kontrolle verschiedener Milizen - darunter der Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS). Damit ist ein ideales Umfeld für Schlepperbanden entstanden.

Mit dem Sturz Gaddafis endete auch die Praxis, die der EU lange eine sichere Südgrenze und Kritik von Hilfsorganisationen eingetragen hatte: Denn in einem Vertrag mit der EU hatte sich Libyen verpflichtet, Flüchtlinge in Auffanglagern zu sammeln, sie nicht in Boote zu lassen und sie in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Dabei fühlte sich das libysche Regime zunehmend selbst unter Druck: Gaddafi selbst hatte unter Verweis auf den wachsenden Migrationsdruck gefordert, dass ihn die EU besser unterstützen müsse. Er wollte damals für die Überwachung der nordafrikanischen Küste fünf Milliarden Euro haben - was ihm die EU ebenso wie moderne Waffen zum Küstenschutz nicht gewährte.

Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Sturz Gaddafis das Grundproblem ist. "Gaddafi war ein Diktator, war kein Freund von Menschenrechten", räumt etwa EU-Kommissar Günther Oettinger ein. "Er hat aber in unserem Sinne dort gewisse Regeln organisiert und hat Verfahren dort abgewickelt. Jetzt haben wir ein Chaos mit Milizen." Auch Außenamtssprecher Martin Schäfer sagt: "Das, was wir jetzt erleben, ist die Folge eines Militäreinsatzes, der das Regime Gaddafi hinweggefegt hat, aber nichts an seine Stelle gesetzt hat."

Die G-7-Außenminister waren bei ihrem Treffen in der vergangenen Woche einig, dass man die Flüchtlingsproblematik nur in den Griff bekommen kann, wenn man Libyen wieder stabilisiert. Wie das aber passieren soll, weiß niemand.

Zwar hat die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini einen Sechspunkteplan vorgelegt. Aber nötig sei zunächst die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, die auch die G-7-Außenminister fordern. Sie sehen viel größere Gefahr: Nur wenige hundert Kilometer vor der europäischen Grenze könnten sich Extremistengruppen festsetzen, die Europa offen drohen. Der IS hat nicht nur angekündigt, Attentäter unter die Flüchtlinge zu mischen. Die britische Zeitung "Daily Mail" berichtete im Februar unter Berufung auf Geheimdienstquellen, dass die Gruppe gleichzeitig 500.000 Flüchtlinge in Hunderten Booten auf das Meer treiben wolle.

Thomas de Maiziere hat jedenfalls schon skizziert, wie für ihn eine dauerhafte Lösung aussehen könnte - nach einer Stabilisierung Libyens: Danach soll die EU wie vor 2011 wieder Verträge mit nordafrikanischen Staaten abschließen, um eine gefährliche Überfahrt zu verhindern, schlägt der CDU-Politiker vor. Menschenrechtsgruppen kritisieren seinen Vorschlag schon jetzt, weil es Abkommen vor allem mit Ländern wären, deren Menschenrechtsstandards nicht annähernd der EU-Praxis entsprechen. In der deutschen Bundesregierung scheint sich aber angesichts der Häufung der Schiffskatastrophen die Haltung durchzusetzen, dass diese Kritik noch das geringere der derzeitigen Übel ist.