"Wohin steuert Russland?", "Trauer-Frühling!" und "Todesstrafe an der Kremlmauer" - so lesen sich nach dem Attentat auf Boris Nemzow die Schlagzeilen in der Moskauer Presse. Der Schock sitzt auch Tage nach dem hinterhältigen Mord an dem scharfen Gegner von Kremlchef Wladimir Putin bei vielen tief. Sogar mit großen historischen Attentaten auf Zar Alexander II. oder den Revolutionsführer Lenin vergleicht das Boulevardblatt "MK" die Bluttat. Das Verbrechen zeige eine Spaltung Russlands und treffe das Riesenreich wohl an einem Wendepunkt, heißt es in vielen Kommentaren an diesem Montag.

"Für mich ist heute ein Russland gestorben, in dem es doch noch Hoffnung gegeben hatte", sagt der enge Wegbegleiter Nemzows, Leonid Martynjuk, in der kremlkritischen Zeitung "Nowaja Gaseta". Er hat - gemeinsam mit dem Ex-Vizeregierungschef - Putin immer wieder ein System kolossaler Korruption vorgeworfen. Der 55 Jahre alte Nemzow, das betonten die Trauernden immer wieder, habe für eine bessere und demokratische Zukunft Russlands gekämpft.

Nehmen die Repressionen zu?

Auf vielen Sonderseiten diskutiert die russische Hauptstadtpresse, wie es nun weitergehen kann. Nehmen die Repressionen noch weiter zu? Wenn es früher ein Abwägen bei dieser Frage gab, ist jetzt die Antwort eindeutig: Ohne Zweifel, ja! Diejenigen, die sich sorgen um ihr Land machen, wollen sich deshalb nicht verlieren in einer Diskussion darüber, wer hinter dem Mord steckt. Für sie ist allein wichtig, dass diese Bluttat nur 200 Meter vom Kreml entfernt überhaupt möglich gewesen ist.

Der Tenor am Tag drei nach dem Mord: Die vom Kreml gesteuerten Staatsmedien hätten mit ihren Hetzkampagnen gegen prowestliche Kräfte und die liberale Opposition den Nährboden für solche Gewalt geschaffen. Das Fernsehen ist voll von hasserfüllten Auftritten von Regierungspolitikern, die auf eine "Russische Welt" schwören. Alle, die nicht auf Kremllinie sind, gelten als Feinde des Systems. Eine Art "Faschismus" slawischer Färbung werfen liberale Intellektuelle dem Kreml vor.

"Die Mauer wird immer dicker"

"Die Mauer zwischen Putin und der entwickelten Welt wird immer dicker", sagt der Politologe Dmitri Oreschkin. Er sieht den Tod von Nemzow - wie viele Moskauer beim großen Trauermarsch am Sonntag - als Ergebnis von Kämpfen innerhalb des Machtapparats. Der Mord spiele einer gewaltbereiten nationalistischen Bewegung in die Hände, die Putin zwar selbst geschaffen, aber wohl nicht mehr unter Kontrolle habe, meint der Experte.

Dazu passen würde, dass sich die Ermittler nun besonders auf diese Gruppe radikaler Nationalisten konzentrieren. Aus ihren Reihen gab es zuletzt vor allem im Zuge der Ukraine-Krise hasserfüllte Drohungen gegen Nemzow. Viele in jenem politischen Lager sahen den prowestlichen Putin-Gegner als Feind Russlands. Nemzow war ein leidenschaftlicher Freund der in die EU strebenden ukrainischen Führung in Kiew.

Ein Tabubruch

In seiner Heimat aber galt der 55-Jährige vielen seiner Landsleute als Verräter. So scharf wie kein anderer in der Opposition warf Nemzow dem Kreml eine Aggression Russlands gegen die Ukraine vor. Und er verurteilte den Anschluss der laut Völkerrecht zur Ukraine gehörenden Schwarzmeerhalbinsel Krim an Russland im vorigen Jahr aufs Schärfste als Verbrechen. Ein Tabubruch in Russland.

"Vielleicht passierte dieser Mord, damit Putin nun gar nicht mehr in den Kreis der Anführer der Welt zurückkehren kann", meint der Politologe Oreschkin. Die Chance auf einen Wandel im Land sieht er nur für den Fall eines totalen wirtschaftlichen Kollapses - "in zwei, drei Jahren". Der niedrige Ölpreis, die Rubelabwertung und die westlichen Sanktionen im Zuge von Russlands Ukraine-Politik fressen bereits jetzt die Währungsreserven der Rohstoffmacht auf.

Mit dem Mord an Nemzow sei Russland von einer "virtuellen zu einer realen Aggression" übergegangen, analysiert die Zeitung "Wedomosti". "Für die Gesellschaft bedeutet das eine wachsende Rolle der Angst", meint das Blatt. Weil die Kremlpropaganda die Menschen aufhetze, müsse sie nicht einmal selbst zur Gewalt greifen, sondern überlasse das "Freiwilligen". Die Zeitung sieht die Bluttat als Zeichen für einen "kalten Bürgerkrieg" in der russischen Gesellschaft.