Der Revolutionär ist zersägt. Jurek weiß sogar, wo die Nase untergekommen ist. Er war dabei, als die antirussischen Aktivisten von Charkiw im September die größte Lenin-Statue der Ukraine gestürzt haben. Jurek stapft durch den Schnee. Es ist nachts um halb zwei und der riesige Freiheitsplatz der ostukrainischen Stadt wirkt ohne den großen Lenin und so menschenleer noch ein wenig monumentaler. Hier sollten Flugzeuge landen können, erzählt der junge Mann schelmisch. Damals, als die frisch gegründete Sowjetunion Charkiw kurzerhand zur Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik machte, weil Kiew einfach zu Moskau-untreu wirkte. Wie sich Geschichte doch wiederholt.

Charkiw ist nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und 250 vom Krieg in der Ostukraine. Früher sei er mit dem Rad zur Grenze gefahren, erzählt Jurek. Deshalb mache er sich keine Illusion, wie schnell die Russen im Konfliktfall in der Stadt wären. Vor allem jetzt, wo die Separatisten mit einer neuen Offensive drohen und die Gefechte wieder stärker werden. Deshalb engagiert er sich auch im Freiwilligenzentrum „Station Charkiw“, wo man neu eintreffenden Flüchtlingen aus der Kampfzone hilft und Unterstützung für die Armee organisiert.

Selbst wenn es bislang keine Kämpfe in Charkiw gab, zeigt der Krieg gelegentlich seine hässliche Fratze in der Millionenmetropole. 48 Stunden vor dem nächtlichen Spaziergang explodierte ein Sprengsatz vor einem Gericht, als der prowestliche Aktivist Michail Sokolow das Gebäude verließ. Zwölf Menschen wurden verletzt.

Ein Land am Abgrund

Immer wieder explodieren in der Stadt Sprengsätze. Es sind die Ausläufer eines Konflikts, der in den vergangenen Tagen wieder aufgeflammt ist. In den Separatistenhochburgen Donezk und Luhansk liefern sich prorussische Rebellen und ukrainische Regierungstruppen heftige Gefechte und hinterlassen tiefe Wunden für das gesamte Land.

5000 Menschen sind seit Beginn der Kämpfe im April 2014 getötet worden. Rund 630.000 Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht, noch einmal 600.000 Ukrainer haben das Land verlassen, erzählt Andrij Waskowycz. Der Präsident der Caritas Ukraine beruft sich auf die jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen und schätzt, dass die Zahlen in Wirklichkeit noch höher sind. Die meisten Binnenflüchtlinge schlagen sich durch bis in die Hauptstadt, weil Kiew sicher scheint und die beste Infrastruktur für Flüchtlinge im Land bietet. Auch in Charkiw sind 120.000 Menschen gestrandet, bei 1,4 Millionen Einwohnern. „Die Gesellschaft ist an ihren Grenzen angelangt“, sagt Waskowycz.

Zerstörung in Slowjansk
Zerstörung in Slowjansk © Ingo Hasewend

Mit massiven Folgen für die Zukunft. 400.000 Kinder sind betroffen, etliche ohne Eltern auf der Flucht, fast alle sind traumatisiert. Dabei ist die Ukraine ohnehin schon eines der ärmsten und strukturschwächsten Länder Europas, sagt der österreichische Caritas-Präsident Michael Landau. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut und schon vor dem Krieg hatte das Land mit massiven sozialen Problemen zu kämpfen. Die Lebenserwartung ist eine der niedrigsten und die HIV-Rate die höchste Europas.

Spuren des Todes

Die leblosen Zahlen füllen sich paradoxerweise erst mit Leben, wenn man sich auf die Spuren des Todes begibt. Auf dem Weg von Charkiw nach Slowjansk zum Beispiel. 170 Kilometer lang ist die Fernstraße, deren Spuren von Panzern und schweren Kriegsfahrzeugen erzählen. Denn in Slowjansk begann im April der Konflikt, von dem keiner der Gesprächspartner auf der Reise so richtig erklären kann, wie er eigentlich entstand.

Auch nicht Wassily Wassiljewitsch. Dabei hat ihm der Konflikt, für den er keine Erklärung hat, alles genommen. Es war der 3. Juli um kurz nach 8 Uhr, als eine Bombe aus einem Flugzeug das vierstöckige Haus traf, in dem er mit seiner Frau in der Stadt Nikolajewka nahe Slowjansk lebte. Er war im Stiegenhaus ganz unten und konnte aus dem Gebäude fliehen, bevor es zusammenstürzte, erzählt der 58-Jährige. Seine Frau nicht. Sie starb ebenso wie zehn weitere Bewohner. „Am 11. Juli fand man sie unter den Trümmern“, erzählt Wassily und stockt. „Ohne Kopf.“ Das Gesicht ist regungslos, die Augen wirken entrückt. Der Mann lebt nun auf sechs Quadratmetern ohne jede Erinnerung, weil aus dem Haus nichts zu retten war, nicht einmal ein Bild seiner Frau.

Wassily Wassiljewitsch
Wassily Wassiljewitsch © APA

Keiner kann auch nach einem Jahr mit Bestimmtheit sagen, warum das Haus eigentlich getroffen wurde. Vielleicht war es ein Zufallstreffer. Nur eines ist klar: Der 58-jährige Wassily ist nun allein, vollkommen allein.

Der Winter rückt an

Viele Flüchtlinge leben so wie Wassily unter menschenunwürdigen Bedingungen, erzählt Vera Pawlowna. Sie organisiert die Nothilfe der Caritas in Slowjansk. Flüchtlinge registrieren, Hilfsgelder verteilen, zerstörte Wohnungen für den Winter fit machen – der in dieser Woche mit minus 20 Grad in den Osten zurückgekehrt ist. Immerhin wurden bereits – auch mit Hilfsgeldern aus Österreich – Fenster in 2000 Wohnungen ersetzt. Dabei spielt der Zufall in die Hände. „Gott liebt die Ukraine, weil er uns einen milden Winter schenkt“, sagt Juri. Er ist aus den umkämpften Gebieten geflüchtet und hilft so wie viele Flüchtlinge beim Wiederaufbau. Die Solidarität in der Bevölkerung ist beeindruckend.

Auch weil fast jeder selbst betroffen ist. Vera Pawlowna zieht ihre Motivation ebenfalls aus den eigenen Erlebnissen. Sie stammt aus Slowjansk und musste nicht flüchten, aber als das große Krankenhaus vor den Toren der Stadt beschossen wurde, lag ihr Vater dort. Das Spital musste evakuiert werden, weil es völlig ausbrannte. In dem Stress erlitt der Vater einen Herzinfarkt und starb.
Wer das Spital beschossen hat, kann Vera aber nicht sagen. Später erzählt ein ausländischer Helfer, dies sei typisch für diesen Konflikt. Viele würden sagen, sie waren beim Beschuss im Keller und hätten nichts gesehen. Es fehlt in der Ostukraine eben an allem – auch an Antworten.