Ruhig beschreibt Leon Schwarzbaum die grauenvollsten Erinnerungen aus der Hölle von Auschwitz. Er erzählt von weinenden, nackten Todgeweihten auf dem Weg in die Gaskammern, von seiner alles verzehrenden Angst vor dem Verhungern und von den von Wachhunden zerfleischten Häftlingen, die vergeblich die Flucht wagten.

Emotionen übermannen den zierlichen weißhaarigen Mann erst am Ende, als er sich an den Angeklagten in dem Prozess vor dem Detmolder Landgericht wendet: "Was war der Grund, was war die Motivation? Das möchte ich gerne wissen", fragt der heute 94-jährige ehemalige Antiquitätenhändler aus Berlin mit bebender Stimme. Er blickt dem schräg vor ihm sitzenden gleichaltrigen Reinhold H., mutmaßlich früher Mitglied des SS-Totenkopfsturmbanns Auschwitz, direkt ins Gesicht. "Sprechen Sie an diesem Ort darüber, was Sie und ihre Kameraden getan oder erlebt haben. So wie ich es tue."

Es ist ein Appell aus tiefstem Herzen. Die Frage nach dem Warum wird seit dem Holocaust oft gestellt, aber von niemandem so eindringlich wie von den Überlebenden. Von Menschen wie Schwarzbaum, der als 22-Jähriger ins Räderwerk der Vernichtung gerissen wurde, 35 Angehörige in Auschwitz verlor und am Donnerstag mit 94 Jahren im tadellos sitzenden dunkelblauen Anzug vor den Richtern des Detmolder Landgerichts Zeugnis ablegt.

Besondere Bedeutung

Der Angesprochene jedoch schweigt, zumindest vorerst. Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen wirft die Staatsanwaltschaft H. vor. Auch er hat schlohweißes Haar und schmale Schultern. Regungslos sitzt er mit tief gesenktem Kopf auf seinem Platz auf der Anklagebank, das Reden übernehmen seine Verteidiger. H. ist gesundheitlich angeschlagen, die Verhandlung ist daher auf höchstens zwei Stunden pro Tag begrenzt.

Der Angeklagte werde sich "derzeit" nicht zu den Anklagevorwürfen äußern, sagt sein Anwalt Johannes Salmen. Ausgeschlossen sei das zwar keineswegs, erst wolle die Verteidigung jedoch abwarten, was Zeugen aussagten. Es gehe darum, die Rechte von H. wahrzunehmen, ergänzt Verteidigerkollege Andreas Scharmer. Ihnen sei aber klar, dass dies kein normales Verfahren sei. "Wir sehen die Bedeutung des Prozesses."

Rund ein halbes Jahr ist es her, dass das Lüneburger Landgericht in einem viel beachteten Prozess den SS-Buchhalter Oskar Gröning für seine Tätigkeit im Vernichtungslager von Auschwitz-Birkenau zu vier Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilte. Es war der Startschuss zu einer Reihe von ähnlichen Verfahren, zu denen auch der Detmolder Prozess gegen H. zählt. In den kommenden Wochen sollen zwei weitere folgen.

Unumstritten sind diese Verfahren nicht. Bei den Angeklagten handelt es sich um Beispiele für die vielzitierten "Rädchen im Getriebe". Sie waren damals Anfang 20, in untergeordneten Positionen tätig. H. etwa war laut Anklage Mitglied der SS-Wachmannschaft des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau. Was genau er dort machte, muss das Gericht klären. Es gibt Stimmen, die solche Verfahren gegen hochbetagte Beschuldigte kritisch sehen.

Bild des Grauens

Die Anklage allerdings dagegen ordnet die Zusammenhänge anders ein. Oberstaatsanwalt Andreas Brendel entwirft bei der Verlesung der Anklage ein sehr detailliertes Bild des Grauens von Auschwitz, schildert die Entwicklung von ersten "Probevergasungen" hin zur "fabrikmäßigen Tötung" tausender Menschen täglich. Er berichtet, dass die Toten in den Gaskammern oft "in halb kauernder Position" gefunden wurden, spricht von Massenerschießungen und von den grauenvollen Lebensbedingungen, die zwingend zum Tode führten. Zu all dem habe H. einen Beitrag geleistet.

Die Verbrechen auf sich beruhen zu lassen und dem Angeklagten zu ersparen, sich zu seiner Verantwortung zu bekennen, lehnt auch Schwarzbaum ab. "Ich bin alt und er ist alt. Er soll die Wahrheit sagen", sagt er. "Wollen wir mal hoffen, dass da noch etwas kommt."