Er hat soeben in einem Lokal in der Nähe des ORF-Zentrums in Wien ein Steak gegessen, lächelt über das ganze Gesicht und meint, dass er gefrühstückt und zu Mittag gegessen habe. Stunden später wird er im ORF über die Welt außerhalb Österreichs reden, über jene Welt, die bis vor wenigen Monaten für viele noch weit entfernt schien und die hautnah an jeden herangerückt ist. Kilian Kleinschmidt kennt diese andere Welt seit 25 Jahren. Er beginnt wieder zu lächeln und kommentiert kopfschüttelnd das große Erstaunen Europas über den Flüchtlingsstrom: "Das hat es doch immer gegeben. Wir haben uns nur darum einen Dreck geschert, weil es nicht im eigenen Vorgarten stattgefunden hat, sondern im Vorgarten anderer Menschen."

Er selbst war in vielen dieser betroffenen Vorgärten. Ein Abenteurer, ein Einzelgänger, ein Manager, der es schaffte, im zweitgrößten Flüchtlingscamp dieser Welt, in Zaatari in Jordanien, Ordnung in Chaos zu bringen. Ein Mann, den die Vereinten Nationen seit Jahrzehnten ruft, wenn Chaos und Gewalt nicht mehr beherrschbar sind. Wie im Kongo, wo er 100.000 Hutu suchen musste, die sich aus Angst, von den Tutsi hingerichtet zu werden, im Regenwald versteckt hatten. Er hat sie gefunden und herausgeholt. "Das waren ausgemergelte Cholerakranke, aber sie waren auch Massenmörder, die Angst hatten vor der Rache der Tutsi. 25.000 haben wir ausgeflogen, 25.000 wurden bei einem Angriff auf ein Lager ermordet."

Erschrecken kann diesen Deutschen, der nun in Wien ein gemeinnütziges Netzwerk für Flüchtlingshilfe aufbaut und die Innenministerin berät, nichts mehr. Er hat sich auch daran gewöhnt, dass kaum jemand bislang an der Misere dieser Welt interessiert war. "Wenn ich nach Hause gekommen bin und erzählte, hat das nach zehn Minuten niemanden mehr interessiert. Man bleibt allein mit seinen Geschichten und diesem Elend."

Mittlerweile bleibt er nicht mehr allein mit seinen Geschichten. Nicht nur die "New York Times" hat ihn im Camp in Zaatari besucht, ein Camp mit mehr als 100.000 syrischen Flüchtlingen. "Da konnte kaum einer der Helfer ohne Bodyguard hinein. Als ich ankam, gab es gerade eine Schlacht zwischen der jordanischen Polizei und den Flüchtlingen, 17 Polizisten wurden verletzt, einer starb, einer liegt heute noch im Koma."

Kinder ohne Kindergesichter

Jeden Tag flogen Steine, nahezu täglich musste Tränengas eingesetzt werden. Was er sich damals dachte? Er beginnt wieder breit zu lächeln. "Ich dachte mir: Oh Gott, was mache ich jetzt? Die Kinder waren die gefährlichsten. Es waren Kinder ohne Kindergesichter, Kinder, die nie Kinder sein durften. Sie haben Zeltstangen als Speere benutzt und Steine auf uns geworfen. Ich konnte nur davonlaufen. Die Erwachsenen haben das lustig gefunden. Das war die Grundstimmung."

Nach Tagen hat er herausgefunden, dass die Stimmung sich änderte, wenn abends die Hilfsorganisationen das Camp verließen. Er blieb deshalb in seinem mit Stacheldraht eingezäunten Büro, ging ins Camp, begann mit den Flüchtlingen zu reden, baute Beziehungen auf. "Es hat", erzählt er, "mafiaähnliche Gangs gegeben und man hat mir mitgeteilt: Wenn du das zerstörst, wirst zu zerbrechen. Geordnete Strukturen waren gegen ihr Interesse."

Warnungen, die an ihm abgeprallt sind. "Ich habe Negativgruppen isoliert und mit den Leuten viel, viel Tee getrunken, bis sie begriffen haben, dass wir auch Menschen sind."

Demonstriert wurde dennoch weiter. "Sie haben Strom gestohlen, dann ist das Umspannungswerk explodiert, dann wurde demonstriert, weil der Thunfisch nicht gut war. Sie haben sich auf Dinge fokussiert, die wir nicht als Problem gesehen haben, und sie wurden von mafiösen syrischen Gruppen instrumentalisiert."

Bis zu 18 Stunden täglich hat der 53-Jährige sich in das Chaos geworfen und stadtähnliche Strukturen aufgebaut. Was er sich denkt, wenn er heute liest, dass die deutsche Polizei sich angesichts von Massenschlägereien in Flüchtlingslagern überfordert fühlt? Er nickt und meint: "Wir würden uns auch prügeln, wenn wir in Massenunterkünften wären und keine Rückzugsmöglichkeiten hätten." Er macht eine kurze Pause und fügt hinzu: "Das sind Menschen, die überhaupt keine Strukturen mehr haben und nicht nur das Trauma des Krieges, sondern auch das Trauma der Flucht haben. Da müssen sich in Nordafrika 500 zusammenfinden, um gegen einen Zaun zu rennen. Die Ersten werden verletzt, die anderen klettern darüber. Man muss in Heimen ganz klare Strukturen schaffen und sagen: Es gibt nur einen Boss."

Ein Satz, den er selbst in Zaatari oft sagte. Wie er selbst all die Gräuel, die er in 25 Jahren als Flüchtlings- und Entwicklungshelfer in Somalia, Uganda, im Kongo, in Mogadischu erlebte, verkraftet hat? Er lacht und meint: "Ich rede einfach darüber, ich habe deshalb auch das Buch ,Weil es um die Menschen geht' geschrieben. Aber vergessen und verkraften kann man das nie, wenn einem bei einem Selbstmordanschlag die Leichenteile um den Kopf fliegen oder wenn man brennende Dörfer, erschossene Menschen sieht."

Er habe auch, erzählt er, nach einem Überfall in Uganda lange gebraucht, um eine Balance zwischen Risiko und Vorsicht zu finden. "Ich habe neben meiner Frau geschlafen, unser Baby war im Nebenzimmer, und habe eine Kalaschnikow am Kopf gespürt." Eine Stunde lang wurde er von vier Männern gefoltert. "Danach", sagt er, "sieht man die Welt anders. Ich hatte dann anfangs überhaupt keine Angst mehr."

Keine perfekte Lösung

Für Sozialromantik bleibt da kein Raum. Er habe, sagt er, deshalb so viel Erfolg gehabt, weil er wusste, dass es die perfekte Lösung nicht gebe. In Bosnien hat er einmal entschieden, Flüchtlingskinder aus dem Lager zu entfernen. Sie hatten mit Baseballschlägern, die ihnen geschenkt worden waren, nicht gespielt, sondern andere geschlagen. "Da gab es", erzählt er, "Übereifrige, die meinten, man könne nicht arme Flüchtlingskinder hinauswerfen." Er hat sich durchgesetzt und gesagt: "Sorry, die armen Flüchtlingskinder sind kriminell und tun den anderen armen Flüchtlingskindern sehr weh."

Was er Politikern heute raten würde? Er antwortet, ohne zu überlegen: "Was fehlt, ist die Bereitschaft, Entscheidungen zu treffen, was fehlt, ist ein Paket für die Welt, damit man sich nicht mehr mit einem Baby in ein Boot setzen muss. Wir haben ja derzeit alle das Gefühl, dass es niemanden gibt, der nach vorne denkt. Da eiert in Österreich und Deutschland jeder herum und schießt aus der Hüfte."

Er schaut auf die Uhr, meint, jetzt müsse er ins ORF-Studio, und fragt zum Abschied, ob ich wüsste, wie viele neue Flüchtlinge es weltweit seit heute Früh gebe. Er erwartet keine Antwort. "Es sind", sagt er, "42.000. Das sind jene, die vor Armut davonlaufen. Dazu kommen noch jene, die vor dem Krieg davonlaufen."