Sie sind Österreichs erfolgreichster Teilnehmer bei Olympischen Spielen. Sind Sie ein Produkt des rot-weiß-roten "Systems" oder Ergebnis eines individuellen "Projekts"?

FELIX GOTTWALD: Sowohl als auch. Ich war kein Talent auf den ersten Blick. Mein erster Trainer im Skigymnasium hat zu meiner Mama gemeint: "Frau Gottwald: Nehmen S' den Buben wieder mit - das macht keinen Sinn." Da braucht es Eltern, die dich im Glauben an dich selbst bestärken. Ich hatte das Glück, solche Eltern zu haben. Das "rot-weiß-rote System" habe ich erst mit 13 Jahren betreten.

Helfen unsere streng hierarchischen Verbandsstrukturen, Nachwuchs zu rekrutieren?

GOTTWALD: Natürlich braucht es Institutionen wie Skiverband, Bundesheer, Sporthilfe, um sich auf die eigene sportliche Entwicklung konzentrieren zu können. Leider werden in diesen Institutionen aber Athleten teilweise immer noch als Produkt betrachtet: "Ohne uns bist du nichts." Ich war nie ein Produkt. Ich bin der Felix, der seinen Weg gegangen und ihm treu geblieben ist. Und der früh gelernt hat, dass ausnahmslos jeder Erfolg das Ergebnis von Teamwork sehr vieler Menschen ist.

Wie hoch ist die Gefahr, dass diese Rahmenbedingungen zwar helfen, Nachwuchs zu rekrutieren, aber zugleich durch den frühen Erfolgsdruck auch Talente verloren gehen?

GOTTWALD: Die größere Gefahr sehe ich darin, dass junge Athleten heute schon viel zu früh verwöhnt werden. Im Sinne einer "Generalversorgung", die als professionelle Unterstützung daherkommt, in Wahrheit aber eine Art Anfüttern ist. Athleten wird beigebracht, Eigenverantwortung abzugeben, anstatt zu übernehmen. Das erzeugt eine verzerrte Realität, Abhängigkeit und eine Gleichschaltung: pflegeleicht, unkritisch, charismabefreit. Unsere Sportsysteme sind anpassungs-, aber nicht individualitätsfördernd. Funktionäre denken, das müsse so sein, sonst ist der Sport nicht vermarktbar. Ich sehe es umgekehrt: Uniformiertheit, auch der Persönlichkeiten, hält den Sport klein. Für Entwicklung von Material werden bizarre Unsummen ausgegeben, Entwicklung von Persönlichkeit ist ein Freigegenstand.

Demnach passen diese Strukturen nicht mehr in die gesellschaftliche Realität?

GOTTWALD: Es wird viel von Werte- und Imagetransfer geredet. Man kann es allerdings auch anders betrachten - als unausgesprochenen Pakt zwischen Sport und Wirtschaft. Spitzensportler sind Vorturner für die Hochleistungsgesellschaft. Die Übung ist: Sei brav und verausgabe dich bis aufs Letzte, sonst gehörst du nicht dazu. Vielleicht werden sich spätere Generationen unglaublich darüber wundern, dass es eine Zeit gegeben hat, wo Sportler mit Firmenlogos zugepickt waren und dafür bezahlt wurden.

Aber das ist doch eine Existenzgrundlage für Profisportler.

GOTTWALD: Es gibt auch Gegenbewegungen, wo Kooperationen inhaltlicher, mehr auf einen tatsächlichen menschlichen Nutzen - ich meine nicht Produktabsatz oder Markenbekanntheit - ausgelegt sind. Die Laureus-Bewegung ist für mich so ein Beispiel. Sport ist für mich Begeisterung, Emotion, Inspiration. Eine Möglichkeit für uns Menschen, uns weiterzuentwickeln. Wenn nur das Entertainment, die Leistung, das Geld, die Werbung zählen, geht die Grundbotschaft verloren. Käme sie an, würde unser Gesundheitssystem viel weniger kränkeln.

Ist es eine Schwäche der öffentlichen Sportdebatte, dass immer nur mit Rekorden und Medaillenspiegeln argumentiert wird?

GOTTWALD: Und ob! Wenn Medaillen über ein bisserl Nationalstolz hinaus nichts bewegen und übertragen, sind sie, mit Verlaub, wertlos. In Ländern wie Norwegen oder Kanada ist der Know-how-Transfer zwischen Spitzensport und anderen Teilen der Gesellschaft ein anderer. Identifikation ist gut, Interaktion besser.

Hat so die tägliche Turnstunde überhaupt eine Chance, jemals realisiert zu werden?

GOTTWALD: Die Diskussion zeigt, wohin wir uns entwickelt haben: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Kindern politisch Bewegung verordnen, und bringen es nicht zusammen. Glücklicherweise gibt es Lehrer, die wissen, dass es keine Mehrzweckhalle für Alltagsbewegung braucht - man kann sie auch in der Klasse, im Schulhof oder im Park in den Unterricht einbauen.

Unser Selbstverständnis als Sportnation ist also nicht mehr als ein gelungener Selbstbetrug, der sich an Mythen festkrallt?

GOTTWALD: In wie vielen Sportarten stellen wir denn internationale Sieger? Und: Ist das überhaupt relevant für das Vitalitätsniveau in der Bevölkerung?

Wie kann man die allgemeine Bewegungsbegeisterung fördern?

GOTTWALD: Sport ist eine Industrie wie Ernährung und Schönheit, funktioniert nach genau diesen Gesetzmäßigkeiten. Inmitten all der Blendeffekte kommt uns das Wesentliche abhanden: die Alltagsbewegung. Ich sehe das immer wieder in meinen Vorträgen und Seminaren: Für viele gilt alles, was nicht Marathon, Ironman oder sonst etwas mit hohem Material- und Kostenaufwand ist, gar nicht als Sport. Was kann ich heute tun, um mich fitter und vitaler zu fühlen? - Einfache Frage, einfache Antworten: Stiegen steigen, bei jedem Mal Aufstehen zehn Kniebeugen, auf einem Bein Zähne putzen. Anfänglich stoße ich mit meiner banalen Idee von "Alltag als Training" oft auf Skepsis. Und dann schreiben mir viele, gerade durch diese "Nebensächlichkeit" zum Sport gefunden oder zurückgefunden zu haben.

Im Vergleich zum amerikanischen System fehlt in Österreich eine Einbettung des Sports in ein universitäres Leistungsmodell.

GOTTWALD: Es wäre auch bei uns ein sinnvoller Ansatz, Spitzensport und Bildung zu verknüpfen. Nur: Hat die Bildung eine bessere Lobby als der Sport?

Wie sehr bremst oder unterstützt die politische Einflussnahme die Entwicklung?

GOTTWALD: Es wäre schön, wenn die Politik den Sport überparteilicher, interdisziplinärer, ressortübergreifender - also ehrlicher - behandeln würde. Und wenn der Sport als gesellschaftliches Aktivierungselement etwa für das Gesundheitssystem ernst genommen würde. Es braucht ein echtes nationales Commitment von Politik, Sport und Wirtschaft.

Wird Ihr Medaillenrekord die nächsten 70 Jahre "überleben"?

GOTTWALD: Der Rekord vielleicht - bei mir könnte es knapp werden.