Exakt heute vor 25 Jahren haben Sie auf einem "Zukunftsparteitag" der Bundes-ÖVP in Graz Ihr Modell der Ökosozialen Marktwirtschaft präsentiert. Sind Sie mit dem, was daraus geworden ist, zufrieden?

JOSEF RIEGLER: Was die Politik daraus gemacht oder besser nicht gemacht hat, ist frustrierend. Wenn ich nicht 1992 das Ökosoziale Forum und 2004 die Global Marshall Plan Initiative gegründet hätte, wären die Pläne tatsächlich in einer Schublade verschwunden. Ich traue mich zu behaupten, dass wenige der heutigen Akteure das Parteiprogramm von 1994, in dem das prominent verankert wurde, überhaupt noch kennen, geschweige denn gelesen haben. Die Tagespolitik hat sich anderen Schwerpunkten zugewandt und ist seit 2010 ohnehin vorwiegend mit Krisenbewältigung beschäftigt.

Haben Sie noch Hoffnung?

RIEGLER: Ja, und zwar durch die Entwicklung in Teilen der Zivilgesellschaft. Dort ist der Denkprozess weitergegangen, weniger in Österreich, aber in Deutschland. Dort läuft geistig mehr.

Aber warum bringt diese programmatische Denksportübung bei uns so wenig Bodenhaftung im politischen Alltag zusammen?

RIEGLER: Eine Ökosoziale Marktwirtschaft braucht eine starke, gestaltende Politik. Sie soll ja den Rahmen richtigstellen für eine ökologische Kostenwahrheit, ein striktes Verursacherprinzip - wer Belastungen verursacht, muss auch dafür aufkommen. Außerdem müsste man Abgaben und Steuern so verändern, dass sie nicht die Vergangenheit fördern, sondern die Zukunft. Es ist aber eine österreichische Untugend, dass, sobald irgendwo ein Problem auftritt, zwei Dinge gemacht werden: erstens ein Gesetz, zweitens eine Förderung. Beides ist ein Unfug. Das führt zu einem Wust an Anlassgesetzgebungen, die wir Jahrzehnte mit uns herumschleppen, und einem Dickicht von Förderungen, wo man zum Teil nicht mehr weiß, warum sie eigentlich erfunden wurden.

Ist die Ökosoziale Marktwirtschaft in Österreich gescheitert?

RIEGLER: Nein, einige unserer Forderungen aus den 1990er-Jahren sind umgesetzt worden, von der Förderung erneuerbarer Energien über die Stärkung der Biolandwirtschaft bis zur Biotechnologie-Offensive.

Aber hat sich die ÖVP bei vielem nicht das Heft der Themenführerschaft von den Grünen aus der Hand nehmen lassen?

RIEGLER: Das Ökosoziale Forum hat sich immer als eine überparteiliche Plattform verstanden. Insofern habe ich überhaupt nichts dagegen, wenn Themen von anderen aufgegriffen werden. So hat einst Alexander Van der Bellen für die Grünen ein ökosoziales, sehr intelligentes Steuersystem präsentiert. Teile davon haben sich als Randergebnis der letztlich gescheiterten Koalitionsverhandlungen 2003 zwischen ÖVP und Grünen dennoch im Regierungsprogramm wiedergefunden.

Sie haben sich damals massiv für eine schwarz-grüne Koalition starkgemacht.

RIEGLER: Es wäre noch immer ein interessantes Projekt.

Schwarz-Grün hätte für Sie mehr Charme als Schwarz-Rot?

RIEGLER: Es wäre innovativer.

Woran krankt es bei der aktuellen Konstellation Rot-Schwarz?

RIEGLER: Sowohl SPÖ als auch ÖVP sind in den geistigen Sog des globalen Trends einer kapitalgetriebenen Ökonomie geraten. Ob es der dritte Weg eines Tony Blair oder Gerhard Schröder oder die Politik eines Wolfgang Schüssel war - das sind verdünnte Aufgüsse dieses Mainstreams des Neokapitalismus. Dadurch sind echte sozialdemokratische oder christdemokratische Modelle sehr in den Hintergrund geraten, nicht zuletzt auch die Ökosoziale Marktwirtschaft. Das ist das eine Grunddilemma.

Und das zweite?

RIEGLER: . . . ist die Große Koalition österreichischer Passform an sich: dass sich nämlich zwei seinerzeitige Großparteien in einer Regierungszusammenarbeit sehr oft gegenseitig im Weg stehen. Auch zu meiner Zeit ist sehr viel Energie draufgegangen, um interne Widerstände zu überwinden. Das kann man sich in der normalen Wirtschaft gar nicht vorstellen, wie mühsam es ist, dass trotzdem noch etwas Konstruktives dabei herauskommt.

Wirken Ideologien wie Fesseln?

RIEGLER: Sie werden sehr oft vorgeschoben, indem Positionen abgeleitet und zugespitzt werden. Aber man müsste weg von diesen Hülsen und ideologischen Scheuklappen, die auf der anderen Seite sofort einen Widerstandsreflex auslösen.

Wie beurteilen Sie diesbezüglich die jüngsten personellen Änderungen an der Spitze der ÖVP?

RIEGLER: Ich habe schon den Eindruck, dass das einen neuen Stil gebracht hat, der hoffentlich auch vom Regierungspartner entsprechend honoriert wird.

Daraus ist zu schließen, dass Sie mit Michael Spindelegger als Parteichef nicht zufrieden waren.

RIEGLER: Ich war sehr unglücklich, weil es eine Einengung gab, bei der ich einfach nicht mitkonnte. Zum Beispiel bei der Steuerpolitik oder beim Bankgeheimnis. Das waren Dinge, wo ich mir gedacht habe: Nein, das kann's nicht sein.

Wann wird es ein Auftauchen aus dem Konjunkturtal geben?

RIEGLER: Es brodelt weltweit. Wir haben nach wie vor die tickende Zeitbombe der Finanzmärkte und die Frage: Wann platzt die nächste Spekulationsblase? Und wir haben das Auseinanderklaffen von Arm und Reich. Wenn in den südeuropäischen Ländern etwa die Hälfte der Jugendlichen keine Arbeit oder Aussicht auf einen Job hat, dann ist das sozialer und politischer Sprengstoff und geradezu eine Einladung für Demagogen, sei es vom extrem rechten oder extrem linken Rand. Da ist der Rückfall in falsche nationalistische Heilsversprechen eine große Versuchung. Aber das schaukelt sich nur noch weiter auf: Je mehr egoistische Nationalismen, desto größer werden die Gesamtprobleme.

Wie kann man das durchbrechen?

RIEGLER: Durch kräftige, akkordierte, globale Initiativen. Ich glaube, wir sind jetzt tatsächlich an einer interessanten Schwelle. Es ist spürbar: Es beginnt etwas zu kribbeln. Das ist jetzt ein Moment, an dem sich entscheiden wird, ob es gelingt, das Ruder herumzureißen, oder ob wir in eine gefährliche Spirale nach unten geraten.

Wie viel Zeit haben wir noch?

RIEGLER: Eigentlich keine.

INTERVIEW: KLAUS HÖFLER