Ein neues Interview zeugt von der Realitätsferne Muammar al-Gaddafis. "Mein ganzes Volk liebt mich", sagt der libysche Herrscher dem US-Sender ABC. Er fühlt sich von den USA hintergangen. Libyen sei ein Verbündeter des Westens im Kampf gegen Al-Kaida, aber "sie haben uns fallen gelassen", sagt Gaddafi. Den US-Präsidenten bezeichnete er als "guten Mann", Obama sei aber möglicherweise nicht korrekt informiert über das, was in Libyen vor sich gehe - während die Vereinigten Staaten tatsächlich Streitkräfte um Nordafrika gruppieren.

Das Grauen kommt langsam an die Oberfläche

Was im Land wirklich vorgeht, scheint sich also eher dem Despoten zu entziehen. Dort in Benghazi arbeiten die Menschen bereits die Vergangenheit des Regimes auf. Gestikulieren aufgebracht, während inmitten der Menge ein Dieselmotor aufheult. Die Schaufel eines Baggers bohrt sich mit ihren Metallzähnen in den roten, lehmigen Boden. Hier, genau an diesem Ort, sollen gefesselte Menschen hingebracht worden sein, sagen die Leute.

Die Erde riecht frisch, plötzlich kracht und splittert es - die Kante einer Betondecke. Hastig kratzen Helfer etwas von der Fläche frei. In den Tagen zuvor hatten sie bereits in der Nähe unterirdische Verliese mit Eingesperrten gefunden, in einem zwei, in einem anderen sechs und in dem größten 40 Gefangene, von denen drei gestorben waren. Einige der Geretteten sollen über fünf Jahre lang lebendig begraben gewesen sein, berichten die Menschen bebend vor Empörung.

Unterirdische Zellen

Ruhe, Ruhe, heißt es plötzlich. Gebannt verstummt die Menge für einen Moment - Szenen wie aus der Apokalypse. Selbst der Bagger schaltet seinen Motor ab, hinter ihm kreist nur noch stumm das Blaulicht eines herbeigeeilten Krankenwagens. Mit Spitzhacke und Vorschlaghammer hacken die Retter ein erstes Loch in die unterirdische Mauer aus grauen Leichtziegeln, rufen in die Öffnung und leuchten mit Taschenlampen hinein - nichts. Das kleine Verlies ist leer. Es hat keine Tür, nur Wände ringsherum und oben unter der Decke ein weißes Luftrohr. Schnell geschlagene Löcher führen zu weiteren Zellen, ebenfalls ohne Tür und ebenfalls leer. An einer Ecke des unterirdischen Gefängnisses finden die Helfer schließlich die Öffnung. Hier sollten die Menschen nach unten gestoßen und offenbar anschließend in ihre neu gebauten Särge mit Luftrohr eingemauert werden.

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Katiba nennen die Bewohner Benghazis das weitläufige Militär-, Geheimdienst- und Gefängnisareal inmitten der Stadt. Katiba, das war der Inbegriff von Terror, Angst und Schrecken. Hier standen die Kasernen von Gaddafis Elitetruppen, die in ihren unterirdischen Bunkern Berge mit leeren Munitionskisten zurückgelassen haben. Hier befand sich der Palast des ruchlosen Diktators umgeben von einer extra dicken Spezialmauer. Das überraschend kleine Gebäude in Form einer Zeltarchitektur ist längst eine geplünderte, verkohlte Ruine. Eine lange Reihe dürrer Drahtgestelle zeigt, wo im Empfangsraum die Polstersessel für seine Lakaien standen. Auf die verrußte Wand hat jemand "Befreit Libyen von diesem Nero" gekritzelt. Höchstens einmal im Jahr, erzählen die Menschen, ließ sich der Gewaltherrscher gewöhnlich für kurze Zeit in dem widerspenstigen Benghazi blicken, mit 660.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Libyens.

Verschwunden für immer

Wer aber von den Bewohnern hinter den weißen, hohen Betonmauern verschwand, der wurde meist nie wieder gesehen. Keiner konnte es wagen, überhaupt in die Nähe zu kommen. Fünf Tage lang rannten die Aufständischen praktisch ohne Waffen gegen die Elitesoldaten im Inneren an, die mit Flugabwehrgeschossen und Panzerfäusten auf die Leute feuerten. Über 350 Menschen verloren ihr Leben. Schließlich gelang es den todesmutigen Angreifern mit selbst gebastelten Sprengstoffdosen die schweren Metalltore aufzusprengen.

Ölingenieur Ibrahim Bakush ist seither rund um die Uhr hier. Er war einer der ersten, der nach der Eroberung das Militärareal nach verdächtigen Löchern im Boden absuchte. "Wir wissen noch nicht viel", sagt der 51-Jährige. Selbst unter den Fundamenten der Moschee auf dem Gelände lässt er inzwischen graben. Eine zwanzig Zentimeter breite Stahltür zu einem Treppenabgang haben seine Leute aufbrechen können. Dieser führt hinunter zu einer unterirdischen Folterhalle mit wenigen Luftschächten nahe der Decke.

"Wir vermuten ein ganzes System von unterirdischen Zellen", erläutert Iyad Ali, einer der Helfer. Man habe Stimmen aus der Tiefe gehört, wisse aber nicht, wie man an die Menschen herankommen könne. "Ich habe am ganzen Leib gezittert", sagt der gelernte Maschinenbauer. Er vermutet, dass es sich um Soldaten handelt, die den Schießbefehl gegen die Demonstranten verweigerten. Ihre Offiziere haben die Eroberer bereits gefunden - gefesselt und verkohlt in einem der Kasernengebäude.