Heftige Proteste und schwere Krawalle mit mehr als 50 Toten binnen weniger Tage - sieben Monate nach dem Amtsantritt von Präsident Mohammed Mursi durchlebt Ägypten erneut eine tief greifende Krise. Ohne größere Zugeständnisse an die Opposition dürfte der 61-Jährige die Lage nach Ansicht von Beobachtern diesmal nicht beruhigen können. Ungewöhnlich genug, warnte das Militär in Person seines Kommandeurs, des ägyptischen Verteidigungsministers Abdel Fattah al-Sissi, am Dienstag vor einem Kollaps des Staats. Wenn Mursi am Mittwoch Berlin besucht, muss er auch dort mit Kritik rechnen.

"Diese Krise wird nicht so einfach enden", warnt der Politikwissenschafter Mustafa Kamel al-Sajjad von der Universität in Kairo. Grund sei vor allem, dass anders als im November, als der Muslimbruder Mursi eigenmächtig seine Befugnisse ausweitete und damit Proteste des liberalen und linken Lagers heraufbeschwor, nun Menschen aller Schichten demonstrierten, um ihre prekären Lebensumstände anzuprangern. Auch Minister al-Sissi warnt, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen seien eine "echte Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität des Staats".

Mursi ist der erste frei gewählte Präsident Ägyptens und der erste Zivilist in dem Amt. Bei der ersten Präsidentschaftswahl in dem bevölkerungsreichsten arabischen Land seit dem Sturz des früheren Machthabers Hosni Mubarak im Februar 2011 setzte er sich gegen seinen Rivalen Ahmed Shafik durch, den letzten Regierungschef Mubaraks. Sein Amt trat er am 30. Juni mit dem Versprechen an, "Präsident aller Ägypter" sein und für die Ideale des Aufstand gegen Mubarak kämpfen zu wollen. Als er aber verfügte, dass von ihm getroffene Entscheidungen nicht mehr angefochten werden können, war schnell vom "neuen Pharao" die Rede.

Eigentlich war Mursi bei der Präsidentschaftswahl nur Ersatzkandidat und wurde als "Reserverad" verspottet. Die islamistischen Muslimbrüder stellten ihn erst auf, als sich andere Möglichkeiten zerschlugen. Auf den Wahlplakaten sah der Ingenieur, der in Kairo studierte und an der Universität von South Carolina in den USA promovierte, eher schüchtern aus. Auch bei ersten Auftritten wirkte Mursi eher defensiv als bissig. Seit der Wahl wirkt der verheiratete Vater von fünf Kindern jedoch zunehmend selbstsicher. Er profitiert dabei auch von der Popularität der Muslimbrüder, aus deren Reihen er nach dem Wahlsieg austrat.

Anhänger loben Mursis bodenständiges Auftreten und seinen Pragmatismus, mit dem er sich zuletzt als Vermittler zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas Anerkennung erwarb. Kritiker sehen den bärtigen Brillenträger hingegen als bauernschlauen Apparatschik der Islamisten, der gezielt seine Stellung ausbaut, um ein neues autokratisches System einzuführen.

Im August wies er den mächtigen Obersten Militärrat in die Schranken, indem er dessen Chef Hussein Tantawi in den Ruhestand schickte. Im Dezember setzte er eine Verfassung in Kraft, die nach Ansicht der Opposition die Bürgerrechte nicht ausreichend gewährleistet.

Versprechen gebrochen

Nach seiner Wahl versprach Mursi einen zivilen Staat unter Einbeziehung aller politischen Strömungen und gesellschaftlichen Gruppen. Dieses Versprechen sehen viele Ägypter inzwischen als gebrochen. Seit dem zweiten Jahrestag des Beginns der Revolte gegen Mubarak am Freitag gehen die Menschen wieder in Massen auf die Straßen, die Gewalt eskaliert.

Die jüngste Äußerung al-Sissis sei daher eine "klare Warnung an Herrn Mursi und in geringerem Maß auch an die Opposition", sagt Abdallah Essennawi von der unabhängigen Tageszeitung "Al-Shorouk". Nötig seien Zugeständnisse wie etwa eine Regierung der nationalen Einheit.

Falls Mursi am Mittwoch wie geplant nach Deutschland reist, dürfte er auch in Berlin verschiedentlich Kritik zu hören bekommen. Jürgen Trittin, Fraktionschef der Grünen im Bundestag, forderte die Bundesregierung bereits auf, mit Mursi "unzweideutig Klartext" zu reden.