Sie fühlen sich provoziert. "Diktator, Diktator", schallt es über den Platz. "Hau ab" prangt in roten Lettern auf einem Banner, der Kopf von Präsident Mursi mit Blutspritzern befleckt. "Wo bleibst du, Allah, hol Mursi und die Muslimbrüder wieder ab", skandiert die Menge unter johlendem Applaus. Wie schon vor drei Tagen beim ersten Massenprotest des säkularen Ägyptens strömten am Freitag erneut Zehntausende in Sternmärschen auf den Tahrir-Platz, um ihren Unmut gegen den islamistischen Staatschef kundzutun.

"Wir verlangen Antworten", sagt Mohammed Gaballe, der auf dem legendären Kreisverkehr campiert. "Mursi will uns die Revolution stehlen", ist der 27-Jährige überzeugt, der bei einer Immobilienfirma in Kairo beschäftigt ist. "Viel zu viel haben wir im Kampf gegen Mubarak geopfert, um uns jetzt einen neuen Mubarak einzufangen." Schon damals, beim Volksaufstand im Februar 2011, hat er alle 18 Tage auf dem Tahrir-Platz gekämpft, traf ihn eine Kugel ins Bein. Jetzt stehen die Zelte wieder dicht an dicht.

Doch der Staatschef denkt nicht daran, einzulenken. In der Nacht zu Freitag bis kurz vor Sonnenaufgang ließ er alle 234 Artikel der umstrittenen neuen Verfassung durch die Versammlung peitschen. Sämtliche nicht islamistischen Abgeordneten, Säkulare, Gewerkschafter und Kopten hatten zuvor ihre Mandate niedergelegt, sodass Muslimbrüder und Salafisten beim live im Fernsehen übertragenen Schlussvotum unter sich waren. Nur vier verschleierte Frauen waren im Plenum zu sehen, ansonsten dominierten Männer mit Bärten das Bild. Das Referendum werde nun "sehr bald" erfolgen, hieß es ungerührt aus dem Präsidentenpalast. Und sobald die Verfassung vom Volk gebilligt sei, lege er alle Sondervollmachten sofort nieder, hatte Mursi noch am Vorabend versprochen.

Bald ein Scharia-Staat?

Doch es sieht nicht so aus, als wenn der Kampf um die neue Verfassung so bald vorüber wäre. Die islamistische Mehrheit will eine Charta, die den Religiösen das letzte Wort bei Recht und Moral zubilligt. Die säkularen Kräfte dagegen möchten das zusammen mit der koptischen Minderheit und den alten Mubarak-Eliten um jeden Preis verhindern. "Der Text ist bestenfalls ein Stück politischer Folklore und wird im Mülleimer der Geschichte landen", spottet Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei. Die Verfassungsversammlung habe längst jede Legitimität verloren.

Die säkulare Opposition stößt sich an Artikeln mit Scharia-Bezug, die das neue Grundgesetz Ägyptens in ihren Augen islamisieren, Minderheitenrechte gefährden und Frauenrechte beschneiden. So legt Artikel 2 fest, dass das Rechtssystem auf den Prinzipien der Scharia, des islamischen Rechts, basieren soll. Die al-Azhar-Lehranstalt muss künftig in allen Fragen der Scharia zurate gezogen werden. Artikel 68 garantiert zwar die Rechte der Frauen, aber nur unter der Bedingung, dass sie nicht den Vorschriften der Scharia widersprechen. Nach Meinung der Kritiker gibt dies dem Gesetzgeber künftig die Möglichkeit, die Vielehe wieder einzuführen, den Erbteil von Frauen zu halbieren sowie das Heiratsalter für Mädchen unter 18 Jahre zu senken.

Für Samstag hat die Muslimbruderschaft ihre Anhänger nach Kairo zusammengetrommelt. Am Sonntag wird das Verfassungsgericht wahrscheinlich die Verfassungsgebende Versammlung für ungültig erklären.

"Mursi bringt Ägypten auseinander", meint Hisham Mahmud, der mit seiner 15-jährigen Tochter Nour auf den Tahrir gekommen ist, um ihr "ein Beispiel lebendiger Demokratie zu zeigen". Die neue Verfassung lehnt der Reiseunternehmer ab, weil sie in seinen Augen Andersdenkende zur Seite schiebt. Doch das sehen nicht alle so. Mahmoud el-Kholy hat das neue Grundgesetz Punkt für Punkt studiert. "Ich habe nichts Problematisches gefunden", sagt der Buchhalter. "Ich hoffe, dass sich die Gemüter langsam wieder beruhigen."