Frankreichs neuer Präsident François Hollande fordert für Europa eine Wachstumspolitik. Wird der Fiskalpakt, der die Staaten zum Sparen zwingt, jetzt wieder aufgeschnürt?

FRIEDRICH SCHNEIDER: Das ist nicht realistisch, denn dafür müsste ja die Bereitschaft aller Partner vorhanden sein, den Pakt neu zu verhandeln. Viel eher wird man sich auf einige Zusätze einigen, dass die Staaten wieder mehr investieren dürfen und dass man Griechenland erneut unter die Arme greift. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der bisherige Präsident Nicolas Sarkozy waren da total festgelegt. Insofern sehe ich den Regierungswechsel in Frankreich als Chance zur Veränderung.

Es wird also zusätzlich zum Fiskalpakt einen Wachstumspakt geben.

SCHNEIDER: Das wäre eine Möglichkeit. Dadurch hätte Hollande einen Erfolg, und auch Merkel hätte weniger Probleme, diese Wendung innenpolitisch zu erklären.

Wie können Europas Staaten gleichzeitig ihr Budget sanieren und Wachstumsimpulse setzen? SCHNEIDER: Es ist jetzt halt eine kluge Mischung aus sparen und investieren gefragt. An Griechenland sehen wir, dass ein Land den Bach hinuntergeht, wenn ich immer nur spare. Dann ist irgendwann keine Regierung mehr da und das Land gleitet ins Chaos ab. Das sage ich als Alemanne! Deshalb ist ergänzend zum Sparkurs immer eine kluge Investitionspolitik nötig.

Wie soll diese Politik konkret aussehen?

SCHNEIDER: Die Staaten sollen Flughäfen, Bahnverbindungen und Straßen bauen, sie können sich um saubere Umwelt sowie Forschung und Entwicklung kümmern. Zusätzlich muss man Anreize für die Unternehmen schaffen, mehr Leute zu beschäftigen. Ich befürworte die Idee von Hollande, dass Firmen für die Aufnahme junger Mitarbeiter eine Zeit lang keine Sozialbeiträge zahlen müssen.

Alle Politiker reden vom Wachstum. Wieso gibt es den Wachstumspakt nicht schon längst?

SCHNEIDER: Mit Investitionen in die Infrastruktur kann man nicht unmittelbar bei Wahlen punkten. Da gibt es keine Lobby und keine Pensionistenverbände, die Druck machen. Mit simpler Rhetorik ist der Nutzen der Wachstumspolitik auch schwer vermittelbar. Die Rechtspopulisten nähren ja den Vorwurf, das Steuergeld werde für die Griechenlandhilfe beim Fenster hinausgeworfen. Dabei wird verschwiegen, wie gut unsere Wirtschaft von Südeuropa lebt und dass beispielsweise Österreich sofort bis zu 400.000 Arbeitslose mehr hätte, wenn unser wichtiger Handelspartner Italien wegbricht.

Ein eigener "Süd-Euro" wäre also keine Lösung.

SCHNEIDER: Nein, denn der würde sofort um 30 Prozent abwerten. Damit wären Unternehmen wie die Voest in Italien schlagartig aus dem Markt draußen.

Wieso reagieren die Börsen nur auf Sparbeschlüsse positiv?

SCHNEIDER: Ganz so ist es nicht. Die Märkte sind reichlich schizophren, sie reagieren auch empfindlich, wenn der Sparkurs ein Land in Richtung Rezession drängt. Es ist jedenfalls ein fataler Fehler, dass wir die Finanzmärkte nicht endlich an die Kandare nehmen. Wir schaffen ja nicht einmal eine Finanztransaktionssteuer.

Weil die Briten hartnäckig Widerstand leisten. Wie sollen denn der vom Etatismus geprägte Hollande und der Neoliberale David Cameron einen gemeinsamen europäischen Willen repräsentieren?

SCHNEIDER: Es zeigt sich, dass die EU halt noch immer nur ein loser Staatenbund ist. Keiner ist bereit, ein Quäntchen Macht nach Brüssel abzugeben. Solange das so ist, wird Europa ein Spielball der Finanzmärkte bleiben. Vermutlich wird es noch zwei Generationen brauchen, bis eine stärkere europäische Zusammenarbeit möglich ist.

Und bis dahin droht jedes Mal eine Zerreißprobe, wenn es in einem großen Land einen Kurswechsel gibt?

SCHNEIDER: Sie haben recht, dass die Gefahr einer europäischen Spaltung mit der Wahl Hollandes größer geworden ist. Ich hoffe, dass der neue Präsident nicht einfach das Ruder herumreißt. Er muss seinen Wahlsieg klug nützen, denn sonst zerreißt es die EU. Außerdem: Es nützt ihm gar nichts, wenn die französische Bonität weiter herabgestuft wird und viel Geld für höhere Zinszahlungen draufgeht.

Im Juni tagt die Troika aus EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank. Welche Inhalte sähen Sie dort gerne auf der Tagesordnung?

SCHNEIDER: Die Troika sollte ein Wachstumsprogramm für Griechenland, Portugal, Irland und Spanien beschließen. In Spanien ist jeder zweite Jugendliche arbeitslos, das ist eine Schande für ganz Europa. Außerdem frisst es jede eingesparte Milliarde sofort wieder auf, denn sie können die Menschen ja nicht verhungern lassen. So kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Wir haben wirtschaftlich glänzend von Spanien gelebt, und jetzt sind alle Länder aufgerufen, Hilfe zu leisten. Denn wir sind drauf und dran, als nächstes Spanien kaputtzusparen. INTERVIEW: ERNST SITTINGER