Sehr geehrte Frau Dr. Bragagna!
Ich vertraue Ihnen etwas für mich sehr Beschämendes an: Ich bin 35 Jahre alt und liebe seit zwei Jahren eine gleichaltrige Frau über alles. Ich komme nur mit einem Problem nicht klar und fürchte, dass unsere Beziehung daran zerbrechen könnte. Eigentlich wären für mich unsere sexuellen Begegnungen immer sehr schön. Das Vorspiel ist für uns beide sehr erregend.

Trotzdem schaffe ich es einfach nicht, meine Partnerin zum Orgasmus zu bringen. Ich fühle mich als Versager. Das geht sogar so weit, dass ich immer weniger Lust auf Sex habe. Ich bemerke auch schon gelegentlich Probleme mit der Erektion. Was kann ich nur machen, um ihr zum Höhepunkt zu verhelfen?

DR. ELIA BRAGAGNA: Sie beschreiben ein sehr häufiges Problem, das gleichzeitig auch ein Missverständnis ist. Jede dritte Frau hat Probleme mit dem Orgasmus. Eine große Studie zeigte, dass nur jede siebente Frau immer einen Orgasmus erlebt, jede sechste nie und jede dritte nicht öfters als jedes vierte Mal.

85 Prozent der betroffenen Frauen gaben an, mit ihrer sexuellen Beziehung zufrieden zu sein. Diese Daten bringen ein großes Missverständnis zwischen Frauen und Männern auf den Punkt. Sex ist für die Mehrzahl der Frauen nicht eine Inszenierung mit genauem Ablauf, wie dem Beginn (Streicheln), dem „eigentlichen Akt“ (Geschlechtsverkehr) und dem Ende (Höhepunkt).

Männermythos

Sexualität ist für sie eine körperliche und emotionale Begegnung. Beim eigentlichen Akt geht es für sie nicht nur darum, körperlich, sondern auch gefühlsmäßig miteinander in Kontakt zu bleiben, sich dabei gegenseitig mit Worten oder Gesten auszutauschen und dadurch die Erregung zu steigern.

Der Höhepunkt ist für jede Frau etwas ganz anderes. Es kann sowohl der körperlich erlebte sein oder auch das befriedigende Gefühl, seinem Partner innig nah gewesen zu sein. Leider ist dieses Wissen nicht weitverbreitet und so versuchen viele Männer noch immer, einen alten Männermythos zu erfüllen, nämlich den, dass ein „richtiger Mann“ seine Frau zum Orgasmus zu bringen hat. Das bedeutet nicht nur Stress für ihn, sondern auch für dessen Partnerin.

Orgasmus-Stress

Dieser Orgasmus-Stress verhindert aber bei einem Großteil der Frauen genau den ersehnten Höhepunkt, denn man erreicht ihn durch Loslassen und Hingabe. Weil Frauen aber wissen, dass viele Männer erst dann das Gefühl haben, ein guter Sexualpartner zu sein, wenn sie einen Orgasmus hatten, greifen viele zu einem Trick.

Laut einer Berliner Studie spielen neun von zehn Frauen im Laufe ihres Lebens gelegentlich den Männern einen Orgasmus vor. So beruhigt sie ihn und verhindert, dass jede sexuelle Begegnung zu einer Prüfung wird. Genau das macht Ihre Partnerin nicht und Sie scheinen durch die reale Situation verunsichert zu sein.

Sie beschreiben aber auch, dass Ihre Partnerin zu Beginn sehr erregt ist und trotzdem nicht zum Höhepunkt kommt. Dieses Phänomen ist sehr häufig. Eine Studie zeigt, dass nur jede 25. Frau alleine durch Geschlechtsverkehr den Höhepunkt erreicht, jede zweite braucht zusätzlich die Stimulation der Klitoris.

Richtige Stimulation

In der Sexualmedizin gilt diese Aufsplittung zwischen vaginalem und klitoralem Orgasmus als überholt. Der Orgasmus kann sich nur einstellen, wenn die Frau sich sehr gut kennt, weiß, welche körperliche Stimulation sie am meisten erregt und wie diese zu erfolgen hat.
Nur wenn sie ihrem Partner während der sexuellen Begegnung auch zeigt, was sie braucht, kann er sie auf diese wunderbare Reise begleiten. Für den Orgasmus der Frau ist also vor allem die Frau zuständig. Der Mann ist ihr Begleiter.

Reden Sie also mit ihr darüber, was sie braucht, was ihr wichtig ist, damit Sie dabei in sinnlichem Kontakt bleiben können.