Xavier Amador war 21 Jahre alt, als sein Bruder Henry an Schizophrenie erkrankte. Er begann Stimmen zu hören, Selbstgespräche zu führen und hatte Gedanken, die jeder Realität entbehrten. Zuerst schämte sich Amador für das Verhalten seines Bruders, dann wollte er ihm unbedingt helfen – und machte dabei ziemlich alles falsch, wie er in seinem Buch „Lass mich – mir fehlt nichts!“ beschreibt. Die Geschichte seines Bruders bildet den Rahmen für dieses Buch, in dem der Psychologe aufzeigt, wie man mit psychisch kranken Menschen umgehen sollte – und wie nicht.

Das Konzept, dass er für diese Gesprächsführung entwickelt hat, heißt LEAP und beruht auf vier Eckpfeilern: zuhören, Empathie zeigen, zustimmen und partnerschaftlich handeln. Es soll ein Werkzeug sein, das vor allem Angehörige von psychisch Kranken unterstützt – besonders dann, wenn Betroffene nicht wahrhaben wollen, dass sie Hilfe brauchen.

Das Buch:
Das Buch: "Lass mich - mir fehlt nichts! Ins Gespräch kommen mit psychisch Kranken" von Xavier Amador. Thieme, 19,99 Euro. © (c) stefankillinger

Hier einige Auszüge aus diesem Buch, anlässlich des Welttages der seelischen Gesundheit am 10. Oktober.

Ich war 21 Jahre alt und dabei, mich für eine Karriere in der Psychologie zu entscheiden, als die Schizophrenie in Henrys Gehirn explodierte, wie eine Zeitbombe, die unglaublich geduldig in seinen Genen getickt hatte. Plötzlich, nur einen Tag nach dem Tod unseres Stiefvaters, sprach Henry davon, Stimmen zu hören und „verrückte“ Gedanken zu haben, die jeder Realität entbehrten. Er war zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, war aber schon mit Mitte zwanzig langsam seltsam geworden und hatte sich zunehmend isoliert. Aber im Laufe dieses längsten Tages meines jungen Lebens wurde mir klar, dass er sehr schwer krank war.

Er war psychotisch. Vielleicht sogar schizophren. Die meisten Menschen wissen nicht, was das bedeutet, einschließlich meiner Familie zu diesem Zeitpunkt. Ich schon. Ich war im Abschlussjahr meines Colleges, um dann Psychologie zu studieren, und ich erkannte die Symptome, darunter das Hören von Stimmen und Wahnvorstellungen.

Zuerst versuchte ich, ihn davon zu überzeugen, dass er krank sei und Hilfe brauche, und versagte dabei völlig, wie Sie wissen. Unglücklicherweise ging ich dann direkt dazu über, ihn zwangseinweisen zu lassen, weil ich damals noch von nichts eine Ahnung hatte. [...]

Henry und ich kämpften in dieser Woche Runde um Runde, aber als ich wieder nach New York musste, war er immer noch mitten in seiner ersten psychotischen Episode. Etwa einen Monat später, nachdem der Rest der Familie wieder zurück in ihren Alltag gefunden hatte, erhielt ich den ersten von vielen solchen Anrufen von meiner Mutter. „Du musst schnell herkommen. Henry hat den Verstand verloren. Er muss in die Klinik.“

Obwohl ich es meistens gut meinte, machte ich viele Fehler, von denen ich mir jetzt wünsche, ich hätte sie nie getan. Einige Dinge waren konstruktiv, wie das Gespräch mit dem Psychiater, nachdem ich versucht hatte, Henry zum ersten Mal ins Krankenhaus zu bekommen. Dennoch, ich machte einige schwerwiegende Fehler, die vielleicht für Sie lehrreich sein können.

Mein wichtigster Tipp für Sie ist: Hören Sie damit auf, ihn überzeugen zu wollen, dass er krank ist. [...]

Der erste Schritt ist daher, dass Sie aufhören zu argumentieren und beginnen, dem Menschen, den Sie lieben, so zuzuhören, dass er danach das Gefühl hat, dass Sie seinen Standpunkt respektieren – einschließlich seiner Wahnvorstellungen und dem Gefühl, nicht krank zu sein.

Jeder, der schon einmal mit Leugnung bei einem Menschen konfrontiert wurde, den er liebt, weiß, dass das Problem, von dem dieser nicht glaubt, es zu haben, nicht einfach dadurch zu beheben ist, dass man ihn darüber belehrt. Solche Versuche fruchten nicht, weil der „Patient“ sich nicht selbst als Patient sieht.

Die Forschung zeigt, dass Konfrontation und „Gruppeninterventionen“, z. B. durch einen Familienrat, selten etwas bewirken. Tatsächlich ist, anders als die meisten denken, eher das Gegenteil der Fall, „Interventionen“ schaden mehr als dass sie nutzen! [...]

Eine der wichtigsten Dinge, die Familienmitglieder tun können, ist es, aktiv und in Kontakt mit den Therapeuten ihres Angehörigen zu bleiben. Dies gilt unabhängig davon, ob ihr Angehöriger im Krankenhaus ist oder ambulant seinen Therapeuten nur einmal alle paar Wochen oder häufiger sieht.

Während unserer Treffen mit Henrys Arzt und Bezugstherapeuten hätten meine Mutter und ich nach dem Entlassungsplan fragen sollen und unsere Beobachtungen mitteilen sollen, was unserer Meinung nach funktionieren könnte und was nicht. Die wichtigste Beobachtung, die wir hätten offenlegen sollen, war, dass Henry nicht glaubte, krank zu sein. [...]

Wenn Familien aktiv mit dem Behandlungsteam zusammen arbeiten, verbessern sie die Qualität der Behandlung. Es ist vielleicht nicht richtig, aber die meisten Ärzte und Therapeuten kümmern sich mehr und besser um die Patienten, wenn sie wissen, dass ein Familienmitglied sich aktiv an der Behandlung beteiligt. Außerdem können wir jede Verschlechterung der Krankheit viel besser erkennen und darauf reagieren, als wenn wir allein auf unsere Beobachtungen angewiesen sind.