Frau Dunitz-Scheer, Sie betreuen an der Grazer LKH-Kinderklinik magersüchtige Patienten. Wie entsteht diese Sucht?
MARGUERITE DUNITZ-SCHEER: Die Sucht ist ein Weg junger Menschen, sich zu definieren. Dass manche die Magersucht wählen, hat mit Rollenvorbildern zu tun: Junge Mädchen werden schon vor der Präpubertät mit dem Thema Diät konfrontiert. Über Mütter begegnen diesem Thema beinahe alle Mädchen. Mütter fühlen sich zu dick, sind auf Diät oder wollen abnehmen. Das ist ein kollektives Frauenthema in Überflussländern.

Welche Risikofaktoren gibt es für die Magersucht?
DUNITZ-SCHEER: Der größte Risikofaktor ist Wohlstand. Der zweite: Anpassungsdruck. Die Gesellschaft hat eine starke und starre Vorstellung davon, wie man sein und aussehen soll, besonders für Frauen. Bei Kindern sieht man, dass sich die Wachstumskurven verändern, die Vielfalt beim Gewicht nimmt ab. 12-, 15- oder 18-jährige Mädchen sehen aus wie Klone. Die Höllenzahl für sie sind 50 Kilo, sie wollen darunter bleiben, das stiftet Identität.

Wann beginnt die Fixierung auf das Gewicht?
DUNITZ-SCHEER: Der Gedanke des sich bremsens beim Essen fängt rund um das 10. Lebensjahr an, entweder durch die Mutter oder die Freunde. Da kennen sich Kinder noch nicht mit Diäten aus, sondern sagen sich einfach: Ich muss weniger essen. Sie vermeiden Essen, mit Ausreden wie 'Ich habe schon gegessen'.

Gibt es heute mehr Fälle von Magersucht als früher?
DUNITZ-SCHEER: Die Schwere nimmt zu: Früher hatten wir zwei Mädchen mit einem Body-Mass-Index von 10 pro Jahr. Heute sind es zwei solcher lebensbedrohlich schweren Fälle pro Monat.

Wie kann es so weit kommen?
DUNITZ-SCHEER: Wenn ein Mädchen beschließt abzunehmen, hat es kein konkretes Ziel vor Augen, sondern beginnt weniger zu essen und mehr zu sporteln. Dann bekommt das eine Eigendynamik: Nach 48 Stunden ist der Hunger weg, durch Endorphine kommt es zu einem High-Zustand. Der Stoffwechsel schwingt um auf Hungerprogramm, man fühlt und denkt dann anders. Je länger sie nichts essen, desto higher werden sie. Wenn dieser Zustand eingesetzt hat, kommt man ohne Hilfe nicht mehr heraus. Das Rad der Sucht hat begonnen sich zu drehen.

Müssen Eltern hilflos zusehen, wie ihr Kind verhungert?
DUNITZ-SCHEER: In solchen Familien versagt der Stopp-Faktor: Die Eltern merken es und denken sich: Das kann nicht sein, wir sind nicht so eine Familie. Wir sind biologisch nicht darauf eingerichtet ist, unsere Kinder verhungern zu sehen, daher sehen Eltern nicht mehr, was passiert. Sie glauben den Lügen der Kinder und erkennen nicht, was andere auf der Straße sehen. Aber auch das Sozialsystem aus Lehrern und Freunden versagt: Bei diesem Symptom machen die Leute die Augen zu.

Wie sind die Heilungschancen?
DUNITZ-SCHEER: 30 bis 40 Prozent werden geheilt, das heißt sie haben eine stabile Gewichtsentwicklung und können sich gedanklich distanzieren. Der Großteil der Betroffenen wird gut stabilisiert, sie haben erkannt, dass essen notwendig ist, werden unter Stress aber immer abnehmen, weil sie vergessen zu essen. Und 30 Prozent haben einen Rückfall, werden wieder stationär aufgenommen. Je mehr Rückfälle, desto größer ist die Gefahr, dass die Magersucht chronisch wird.