Alles ist für die 42 teilnehmenden Länder gut organisiert, strukturiert und geordnet ­– wie im berühmten schwedischen Möbelhaus. Aber ein eurovisionäres Fieber ist in Stockholm noch nicht zu spüren. Mag auch die Innenstadt mit dem Slogan „Come Together“, dem Nachfolgemotto von „Building Bridges“, geschmückt und direkt vor dem königlichen Schloss für rund eine Million Euro ein temporärer Club aufgebaut worden sein, wo vor und nach den Proben bzw. Shows in der in einem Außenbezirk gelegenen Globe Arena gefeiert und auch miteinander gesungen werden kann. Zudem bereits etwa 2500 Mitglieder von ESC-Fanclubs aus ganz Europa die Stadt bevölkern – neben rund 1600 akkreditierten Journalisten. „Die Bühne ist hier mächtiger, die Regie moderner, aber in Wien war hinter den Kulissen vieles mit mehr Liebe zum Detail organisiert“, versucht etwa die estnische Delegation einen Vergleich zwischen 2015 und heuer.

Der Countdown läuft ...
Der Countdown läuft ... © (c) APA/AFP/JONATHAN NACKSTRAND (JONATHAN NACKSTRAND)

Vielleicht liegt es auch daran, dass es für die Schweden schon fast selbstverständlich ist, die Europameisterschaft im Trällern auszutragen. Zum sechsten Mal sind sie Gastgeber, zum dritten Mal haben sie sich für die Hauptstadt entschieden. Und die schwedische Musikindustrie verdient Jahr für Jahr am meisten am Song Contest; im Schnitt sind schwedische Songschreiber und Produzenten an zehn Beiträgen beteiligt und kassieren so an den Urheber- und Aufführungsrechten mit. Heuer sind sie u. a. an den Liedern von Norwegen, Georgien, Aserbaidschan, Malta, Zypern und Tschechien beteiligt. Daher werden Stimmen laut, die eine Reglementänderung fordern: Sie wollen nicht das Orchester oder den Sprachzwang zurück, aber die Auflage, dass Komponisten und Texter aus dem jeweiligen Land stammen müssen. Diese Rufe werden bei der Europäischen Rundfunkstation jedoch verhallen.

Im Gegenzug wird sie noch mehr darauf achten, dass es neben den Inhalten der Liedtexte, die man vorab prüfen kann, auf der und rund um die Showbühne zu keinen „Äußerungen oder Gesten von politischer oder ähnlicher Art“ kommt. Buhrufe gegen die Politik Putins, wie es sie schon nach der Präsentation des russischen Beitrags oder bei zwölf Punkten für Russland gab, werden in Stockholm technisch herausgefiltert und nicht in die Wohnzimmer übertragen. Als „Softener, der den Applaus angleicht“, bezeichnet Jon Ola Sand, seit 2010 Supervisor des Wettbewerbs, das Verfahren des Ausblendens.

Sergey Lazarev (Russland) und Francesca Michielin (Italien) mit Zoe
Sergey Lazarev (Russland) und Francesca Michielin (Italien) mit Zoe © (c) ORF (MILENKO BADZIC)

Apropos Putin: Dass Moskau gewinnen will, demonstriert es jede Sekunde des Auftritts ihres Popstars Sergej Lazarev. Er turnt durch eine unglaubliche High-Tech-Schlacht, bei der ihm Flügel wachsen, er eine Mauer überwindet und auf einer Scholle ins Weltall fällt. Im Falle seines Siegs müsste man den ESC in Video-Contest umtaufen, da man bei diesem Auftritt das Lied fast vergisst. Die Strichmännchen-Animationen des Vorjahres-Siegers Mans Zelmerlöw waren jedenfalls Kinderkram dagegen. Die Russen setzen mit dieser gigantischen Tricktechnik neue Maßstäbe. Sergej hatte nach jedem Probendurchlauf übrigens einen hochroten Kopf, weil er neben dem Singen zentimetergenaue Turnerei absolvieren muss.

Kein Wunder also, dass Sergej bei den Buchmachern vorne liegt. ORF-Kommentator Andi Knoll, der zum 16. Mal beim ESC im Einsatz ist und an Zoës Finaleinzug glaubt („Knapp, aber ja!“), traut den Wettquoten diesmal allerdings nicht: „Heuer ist das Jahr der Überraschungen! Wie bei politischen Wahlen, wo sich nachher die Meinungsforscher und Buchmacher fragen: Wie haben wir so in den Gatsch greifen können?“ Am Samstag gegen Mitternacht sind ohnehin alle schlauer.

Zoe und Andy Knoll in Stockholm
Zoe und Andy Knoll in Stockholm © (c) ORF (Milenko Badzic)