Am Anfang tanzen Heißluftballone durch die Luft. Idylle. Scheinidylle. Denn 1000 Seiten später würden sie sich wohl, in der Dämmerung, der Grauzone, zu einem Todesreigen formieren. Obwohl da kaum einer stirbt und fast niemand ausgelöscht wird. Es herrscht eine Art von Alltagsapokalypse, mit der Leser von Clemens J. Setz längst vertraut sind, die sich aber immer wieder auf andere Weise, stückweise nur, offenbart.

Ein Dreiergespann, das konträrer kaum sein könnte, bildet den Dreh- und Angelpunkt in seinem neuen, bisher umfangreichsten Roman, angetrieben, umhergewirbelt durch eine Rotationsmechanik, für die Setz ganz eigene, raffinierte Patentrechte besitzt. Natalie, knappe 20 Jahre alt, nimmt einen Job in einem Grazer Behindertenheim an. Ihr wird rasch ein heikler Pflegefall zugeteilt. Ein im Rollstuhl sitzender, homosexueller und psychisch schwer lädierter Stalker namens Dorm, der durch seinen Terror eine Ehe zerstörte und das Leben der Ehefrau auslöschte. Sie wählte, restlos erdrückt von den Infamien, den Freitod. Dritter im ungleichen Bund ist der Ehemann, im Heim stets mit großer Ehrfurcht als Dr. Hollberg umschwärmt wie eine Kerze von Motten. Seit vier Jahren besucht er regelmäßig und allwöchentlich den Stalker, zu Beginn des Buches ohne erkennbare Rachemotive.

Nichts ist, wie es scheint in diesem Katz-und-Maus-Spiel, reich an falschen Fährten, Finten und Täuschungen, die auch den Leser, der meint, die virtuos aufgebaute Geschichte halbwegs zu durchschauen, ständig in Sackgassen führen. Ob es am Ende ein Psychothriller, ein an Abgründigkeit reicher Spuk auf höchstem Niveau oder eine zeitgemäße Variante von Natalie im digitalen Horrorland ist? Ermessenssache, zumal auch andere Deutungen möglich sind. Zu tückisch sind die Doppelbödigkeiten dieses sprachlich meisterhaften Zeitgemäldes über Menschenmarionetten, die in reale Albträume desertieren. Jedes Ding hat zwei Seiten. Bei Setz sogar 1021. Keine davon ist zu viel.