Apropos Castingshow und Superstar. Ich habe in den vergangenen 15 Jahren meine Gesprächspartner immer wieder daran erinnert, dass der Bachmannpreis schon hoch in seinen zwanziger Jahren war, als im deutschen Fernsehen die Castingshows ihren zweifelhaften Siegeszug begannen. Aber es ist und bleibt ein Kreuz: Seit „Deutschland sucht den Superstar“ oder verwandten Formaten, deren Schöpfern ich hier frank und frei die Pest an den Hals wünsche, seit der nicht enden wollenden Reproduktion solchen Medienschrotts existiert all das in permanenter, schmerzlicher Realpräsenz, was den alten Mythos von Klagenfurt ausmacht: die Instrumentalisierung von Talenten, die Respektlosigkeit gegenüber den Anstrengungen anderer, Schadenfreude, nicht zuletzt die Inszenierung einer eitlen, selbstverliebten und selbstgefälligen Kritik. Ich fürchte manchmal, dass der Mythos von Klagenfurt in den letzten 15 Jahren aus der Realität der Castingshow genau die Lebenskraft gezogen hat, die ihm die Realität der Veranstaltung eigentlich hätte nehmen müssen.

Mythos Klagenfurt

Meine Damen und Herren, ich selbst kann schlecht beurteilen, was genau mein persönliches Bemühen, den alten Mythos von Klagenfurt zu besiegen, gefruchtet hat. Ganz sicher hat es zum Beispiel nicht verhindert, dass die Vernichtungsorgie, wenn sie hier im ORF Theater unterblieben war, an verschiedenen Stellen im Feuilleton regelmäßig nachgeholt wurde. Jedes Jahr habe ich dort irgendwo lesen können, dass die Auswahl der Texte in toto miserabel war. Konkret heißt das für den Juror, dass er bei seiner womöglich wochenlangen Arbeit, aus vielleicht 200 Texten zwei auszusuchen, schwer gepatzt hat, weil ihm die anderen Texte, die besseren, die doch sicher im Stapel lagen, entgangen sind. Ich weiß nicht, ob die betreffenden Kritiker wissen, wie schwer so ein Vorwurf wiegt. Womöglich ahnen sie nicht, wie schwierig so eine Arbeit ist, wie sehr sie jedes Urteilsvermögen überfordern, ja, dass sie einen sogar an den Punkt bringen kann, an dem man jedes Urteil für unmöglich hält. Auch der Anspruch, vor laufenden Kameras intelligent, präzise, analytisch, geistreich und natürlich unterhaltsam und humorvoll zu sprechen, ist, ich sage einmal: ein hoher Anspruch. Nun sind gelegentlich Kritiker der Elche selber welche, Pardon, sind Kritiker Juroren geworden.

Einsichten

Ich denke, die betreffenden Damen und Herren haben bei dieser Gelegenheit erfahren, wie schwer der Job tatsächlich ist. Allerdings muss ich auch einräumen, dass ich am Schluss eher bereit war, mich mit den habituellen, oder sollte ich sagen folkloristischen Verrissen des Wettbewerbs im Feuilleton zu versöhnen, womöglich einer der wenigen positiven Nebeneffekte des Älterwerdens. Nicht, dass es im Laufe der Zeit weniger wehgetan hätte, sich immer und immer wieder sagen zu lassen, man habe ohne Not seine Arbeit schlecht gemacht. Aber ich glaube, ich habe allmählich eingesehen, dass es womöglich zum sinnvollen Funktionszusammenhang des Bachmannpreises gehört, wenn man dem mühsamen Alltag der literarischen Urteilsfindung immer wieder die Überzeugung entgegenhält, es sei im Grunde alles ganz einfach, solange man nur Augen und Ohren aufhält und den gesunden Menschenverstand einschaltet. Genauer gesagt: Wenn man sich nur ein bisschen Mühe gibt, dann ist es kein Problem, Jahr für Jahr 14 bislang unbekannte Genies mit 14 außerordentlichen Texten einzuladen, über die dann geistreich zu diskutieren keiner Anstrengung mehr bedarf, da sich die guten und wertvollen Gedanken beim Reden allmählich selbst verfertigen. Es ist wohl einfach die Aufgabe des Feuilletons, dieses große Ideal immer wieder im kleinen Alltag aufzubauen.

Über den Schmerz

Utopien sind Orte oder Ziele, die sich dadurch definieren, dass man sie nicht erreichen kann. Nichtsdestoweniger gerät man ohne Utopie in die Orientierungslosigkeit. Man muss wissen, wohin man will, auch wenn man dort niemals ankommt. Ich für mein Teil muss allerdings bekennen, nicht ganz unglücklich darüber zu sein, dass von mir persönlich jetzt nicht mehr erwartet wird, Utopien einzulösen, sprich: Wunder zu tun. Zumindest nicht hier in Klagenfurt.

Und damit komme ich zum Schmerz. Das heißt: Von meinem Schmerz war hier schon mehrfach die Rede; jetzt meine ich den Schmerz der Autorinnen und Autoren, die hier ihre Texte präsentieren. Im Gegensatz zu den meisten Jurymitgliedern, mit denen ich im Laufe der Zeit diskutieren durfte, bin ich selbst einmal da vorn gesessen und habe vorgelesen. Und ich habe es im Grunde immer schon geahnt, von Jahr zu Jahr aber habe ich es mehr erfahren, geradezu körperlich, dass keine noch so große Sachlichkeit und kein Respekt am Ende den Schmerz ganz lindern können, den es einem Autor oder einer Autorin bereitet, wenn ihr Text gerade von denen abgelehnt wird, deren positives Urteil sie erhoffen.

Demutsübung

Gestatten Sie mir den Vergleich: Texte sind wie Kinder. Im Idealfall entstehen sie aus nichts als Liebe und Hoffnung. Man hegt und pflegt sie, man will ihnen alles mitgeben, was man weiß; doch irgendwann ziehen sie hinaus ins Leben (...). Und wenn die Kinder dann den Gefahren des Alltags ausgesetzt sind, wenn sie sich bei anderen Menschen erfolglos um Anerkennung bewerben, dann leiden die Eltern. Zunächst leiden sie, weil sie ihre Kinder doch so lieben und ihnen das Beste wünschen, und dann leiden sie noch einmal, weil sie ihnen nämlich jetzt kaum noch helfen können. Man kann das natürlich nennen, selbstverständlich und unausweichlich; weh tut es dennoch. Wer Kinder hat, der weiß es. Wer Texte schreibt, weiß es auch. Ich habe es selbst erfahren, und ich habe es hier in Klagenfurt gewissermaßen sympathetisch erfahren, wenn ich mit den von mir vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten ihre Lesungen und die anschließenden Diskussionen durchgestanden habe. Die Erfahrung, dass etwas Geliebtes oder Geschätztes von anderen, womöglich sogar von Leuten, die man selbst achtet und schätzt, überhaupt nicht geschätzt und erst recht nicht geliebt wird, gehört zu den zentralen Erfahrungen beim Bachmannpreis. Man kann daran verzweifeln. Vielleicht kann man diese Erfahrungen aber auch als Demutsübung begreifen, als Einübung in die schmerzliche Realität einer Welt, in der mit großer allgemeiner Billigung das Individuelle herrscht, was aber auch oft genug bedeutet, dass einer des anderen Sprache nicht versteht.