Die Geschichte zu diesem Debütbuch ist fast so gut wie eine der Geschichten in ihm: Die Autorin Karen Köhler durfte kurzfristig zum Wettlesen um den Bachmannpreis nicht antreten: Windpocken. Spontan wurde eine Solidaritäts-Lesung organisiert. Danach hieß es: Das wäre der eigentliche Siegertext gewesen. Ihr Erzählband "Wir haben Raketen geangelt" jedenfalls ist auch ohne Auszeichnung ausgezeichnet.

Sie sei jetzt das "Windpockengirl", berichtete die 1974 geborene Hamburgerin, die auch als Schauspielerin gearbeitet hat, von ihren ersten Interviews. "Ich werde wohl nicht über meine Erzählungen identifiziert, sondern über meine Erkrankung. Mist." Doch die zusätzliche Aufmerksamkeit hat ihr nicht geschadet. Im Gegenteil. Ihr Buch mit neun Erzählungen hat fast durchwegs hervorragende Kritiken bekommen. Zu Recht.

Bizarre Situationen

Es sind scheinbar bizarre Situationen, in die Köhlers Protagonisten durch Schicksalsschläge aus einem geregelten Leben taumeln oder allmählich abdriften. Eine junge Deutsche wird im Death Valley knapp vor dem Hitzschlag von einem Indianer gerettet, nachdem sie aus dem Auto eines zudringlichen Fahrers gesprungen war. Eine auf einem Kreuzfahrtschiff engagierte Tänzerin haut bei einem Landgang spontan ab und lässt ihr bisheriges Leben hinter sich. Eine Frau zieht sich im Spätherbst nach dem Tod ihres Freundes ohne Nahrung auf einen einsamen Jagd-Hochstand zurück und wartet dort auf ihr Ende. Die 70-jährige letzte Überlebende einer völlig zurückgezogenen Familie berichtet von ihrem Leben im hintersten Sibirien, fernab jeglicher Zivilisation.

Köhler hat für jede ihrer Geschichten einen eigenen Tonfall, eine eigene Erzählweise, die einen rasch fesselt - ob es Postkarten sind, die eine Frau, die kurz mal "Zigaretten holen" gegangen ist, von einer spontanen Italienreise nach Hause schreibt, oder die trockene Beschreibung einer Wiederbegegnung mit dem angehimmelten einstigen Freund der Schwester ist, in der sich auf einem knappen Dutzend Seiten eine Lebenstragödie enthüllt.

Intensive Freundschaft

Die Erzählung "Il Comandante", die Köhler krankheitsbedingt nicht in Klagenfurt lesen konnte, spielt übrigens im Krankenhaus. Eine Krebspatientin trifft auf einen alten kubanischen Mit-Patienten, dessen positive Energie und ungebrochene Lebensfreude auf alle abstrahlt und der im Krankenhaus-Bistro jeden Tag mit Heißhunger einen Banana Split verschlingt. In Tagebuchaufzeichnungen schildert sie die immer intensivere Freundschaft, die jäh abbricht: Cesar, der immer fröhliche "Comandante", stirbt überraschend an einem Herzinfarkt. Und die zurückgelassene Freundin schickt ihm eine letzte SMS nach: "I hope they serve Banana Split in heaven."

WOLFGANG HUBER-LANG

Karen Köhler: "Wir haben Raketen geangelt", Hanser, 238 S., 20,50 Euro