Ihr neues Buch, in dem es um die Flüchtlinge am Oranienplatz geht, kann man geradezu als Punktlandung bezeichnen: Es kommt just in dem Moment heraus, in dem das Flüchtlingsthema hohe Wellen schlägt. Wie kommentieren Sie die aktuelle Situation?

JENNY ERPENBECK: Mein Roman war und ist nicht als Kommentar zur politischen Situation gedacht. Das Nachdenken über ein Buch beginnt ja immer viel früher als das eigentliche Schreiben. Ich verfolge schon seit vielen Jahren die Fluchtgeschichten von Menschen, die aus Ländern, die wir kaum kennen, zu uns kommen. Was sich schon lange angedeutet hat, potenziert sich im Moment einfach dadurch, dass inzwischen so viele Länder im arabischen Raum und in Nordafrika, die bisher stabil waren, durch Krieg und Unruhen zerrüttet sind. Dass die Menschen versuchen, ihr Leben zu retten, indem sie von den Schlachtfeldern fliehen, ist verständlich - dass sie hier erneut mit Aggressionen konfrontiert werden, eine Tragödie.

Was erwarten Sie von der Politik?

ERPENBECK: Dass sie die Situation zur Kenntnis nimmt und angemessen darauf reagiert: Die Flüchtlinge sind bereits hier bei uns und werden weiterhin ankommen. Es ist notwendig und meiner Meinung nach auch das einzig Sinnvolle, den Flüchtlingen Freizügigkeit innerhalb Europas zu gewähren - und das Recht, sich in allen europäischen Ländern eine Arbeit zu suchen oder eine Ausbildung zu beginnen. Nur so wird Schleppern die Geschäftsgrundlage entzogen, und nur so können die Flüchtlinge zu den Sozialsystemen beitragen, anstatt wegen der misslichen Gesetzeslage auf Kosten der Sozialsysteme jahrelang in Warteschleifen oder im Status von "Illegalen" gehalten zu werden.

Finden Sie, dass Schriftsteller oder überhaupt Intellektuelle bisher in der Flüchtlingsdebatte genügend Position bezogen haben?

ERPENBECK: Wann aus einem Problem ein Thema für eine künstlerische Auseinandersetzung wird, ist eine komplexe und sehr persönliche Frage. Mir geht es mit diesen Fluchtgeschichten so, aber das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass mich schon immer die Brüche in Biografien, die Übergänge interessiert haben. Kunst hat so viel mit dem Fragen zu tun, und so wenig damit, Antworten geben zu können - und jeder fängt mit seinem Fragen an einem anderen Punkt an. Da lässt sich nichts einfordern.

Kann Ihr Buch ein wichtiger Debattenbeitrag sein? Kann Literatur so etwas überhaupt leisten?

ERPENBECK: Literarisch zu schreiben, ist meine Form des Nachdenkens. Ob mein Roman ein Beitrag zu einer Debatte sein wird, vermag ich nicht einzuschätzen. Aber ich glaube, dass Literatur einige grundlegende Probleme anders erfahrbar machen, einige Fragen anders stellen kann, als es in der Tagespolitik üblich ist. An unserem Umgang mit den Flüchtlingen erkennen wir, wer wir sind. Je rigider die Maßnahmen zum Schutz unseres Wohlstandes sein werden, umso mehr wird uns das, wodurch wir uns in der Welt moralisch legitimieren, abhandenkommen: der Respekt vor dem Menschen ohne Ansehen der Rasse, der Religion, des Geschlechtes. Das Einhalten des Gebotes: Du sollst nicht töten.

Haben Sie auch eine ganz persönliche Beziehung zu dem Thema Flucht und Asyl?

ERPENBECK: Für das Buch habe ich über lange Zeit hinweg intensive Gespräche mit schwarzafrikanischen Flüchtlingen geführt, die bis 2011 als Gastarbeiter in Libyen waren und im Zuge von Gaddafis Sturz auf Boote gezwungen und so über Lampedusa nach Italien gekommen sind. Aber auch die Geschichte meiner eigenen Familie ist eine Geschichte von Flucht, politischer Verfolgung, Vertreibung. Sowohl auf der Seite meines Vaters wie auf der meiner Mutter. Die einen waren während der Nazizeit als Antifaschisten in der Emigration, die anderen mussten am Ende des Krieges ihr Haus in Ostpreußen verlassen. Und dass ein Staat quasi von einem Tag auf den anderen verschwinden kann, habe ich beim Mauerfall selbst erlebt. Es ist also eine Familienerfahrung, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind. Besitz ist relativ. Das Erbe sind vor allem die Geschichten, denn in so einen Koffer, den man auf der Flucht schleppen muss, steckt man nicht das Meissner Porzellan. Und eine ganz wichtige Erfahrung: Es kommt auf die Solidarität und den Mut Einzelner an, wenn man in Not ist und Hilfe braucht.

Die Hauptfigur Ihres Romans, Richard, ist ein in der DDR aufgewachsener ehemaliger Professor. Warum haben Sie genau diesen Protagonisten ausgewählt?

ERPENBECK: Richard ist Wissenschaftler, das heißt, er ist von Berufs wegen neugierig - aber er wahrt auch die Distanz des Beobachters. Und wie jeder DDR-Bürger weiß er, wie es sich angefühlt hat, wenn man nicht zur sogenannten großen, weiten Welt gehörte. Bei der Wende dann ist ja jeder DDR-Bürger durch die Erfahrung der Fremdheit hindurchgegangen, und zwar unabhängig davon, ob mit Begeisterung oder Betroffenheit. Das ist ein ungeheurer Erfahrungsvorsprung, der Richard bei seiner Begegnung mit den Flüchtlingen zugutekommt, sozusagen ein objektiver Anknüpfungspunkt für Gespräche über Fremdheit. Es ging mir nicht darum, einen Moralisten ins Zentrum meines Buches zu stellen, sondern darum, eine Bestandsaufnahme zu machen.

Was können wir von den Flüchtlingen lernen?

ERPENBECK: Bescheidenheit, Durchhaltevermögen. Nachdenken darüber, was in einem Menschenleben das wirklich Wichtige ist.

(Das Gespräch führte Sibylle Peine/dpa)