Düsternis allenthalben: Mit Justin Kurzels Shakespeare-Verfilmung „Macbeth“ ging am Samstag das Rennen um die Goldenen Palme in Cannes zu Ende. Nun berät die Jury um Joel und Ethan Coen, welcher der 19 Filme das Rennen macht. Der blutrünstigen Klassikerverfilmung mit Marion Cotillard und Michael Fassbender werden von den Kritikern gute Chancen zugemessen.

Auch dem opulentem Senioren-Drama „Youth“ von Oscar-Gewinner Paolo Sorrentino („La Grande Bellezza“) wird einiges zugetraut, nicht zuletzt die Palme für Hauptdarsteller Michael Caine, der darin eine großartige Meisterleistung bietet. Der 82-jährgie Brite gibt den berühmten Komponisten Fred Ballinger, der mit dem Ruhestand zufrieden ist. Mit seinem langjährigen Freund Mick (Harvey Keitel) macht er Urlaub in einem Luxus-Sanatorium in den Schweizer Alpen. Man plaudert entspannt über Prostata-Probleme und verflossene Liebschaften. Oder die Kinder, deren Ehe gerade in die Brüche ging. Während der Musiker einen Schlussstrich unter seine Karriere zog und sich selbst vom Gesandten der Queen nicht für ein Konzert erweichen lässt, will sein Kumpel, der berühmte Regisseur, es noch einmal wissen und plant in der abgeschiedenen Bergwelt ein letztes Werk, dass sein cineastisches Testament werden soll. Noch ahnt er nicht, dass seine Diva (umwerfend hysterisch: Jane Fonda), die er einst berühmt machte, ihm einen Korb geben wird, weil sie ein gut bezahltes Angebot in einer Seifenoper vorzieht.

Glänzendes Seniorendrama:
Glänzendes Seniorendrama: "Youth2 mit Michael Caine und Harvey Keitel © FDC

Seinem Ruf als legitimer Fellini-Nachfolger wird Sorrentino einmal mehr gerecht. Mit visueller Eleganz bietet er ein Füllhorn grotesker Ideen und absurder Figuren. Sei es, dass der Komponist auf der Alm spontan ein paar Rinder zum Kuhglocken-Konzert dirigiert oder ein enorm übergewichtiger Diego Maradonna mit übergroßer Karl Marx-Tätowierung auf dem Rücken (gespielt von einem Doppelgänger) lässig Tennisbälle in die Luft kickt. Und dann tritt plötzlich auch noch Adolf Hitler auf, der die Sanatoriumsgäste im Frühstücksraum ebenso verschreckt wie das Kinopublikum – was sich als harmlose Kostümprobe eines hadernden Hollywood-Stars entpuppt. Nicht alle waren begeistert, bei der Pressevorstellung gab es viel Buh, das Premieren-Publikum bedankte sich für die famose Farce indes mit 17 Minuten Applaus.

Audiards Flüchtlingsdrama

Große Hoffnungen galten dem Franzosen Jacques Audiard, der in "Dheepan" von einem Tamilen erzählt, der mit Frau und Kind vor dem Bürgerkrieg nach Frankreich flüchtet. Das Trio kennt sich nicht, als vermeintliche Familie hofft man aber auf bessere Chancen beim Asyl. Während der Titelheld als Hausmeister im Wohnblock eines tristen Pariser Vorortes arbeitet, bekommt die Frau einen Job als Haushälterin beim lokalen Drogenbaron. Für die Neuankömmlinge kein leichter Start, der heimatlichen Gewalt sind sie entkommen, nun werden sie mit den täglichen Bandenkriegen konfrontiert.

Flüchtlingsdrama
Flüchtlingsdrama "Dheepan" von Jacques Audiard © APA/EPA/WHY NOT PRODUCTIONS / CA

Audiard will den abstrakten Flüchtlingsströmen aus den Nachrichten ein konkretes Gesicht geben, sie als Menschen mit Träumen und Werten zeigen. Gänzlich gelungen ist das Werk indes nicht. Seine Figuren bleiben blass und bieten zu wenig Raum für Empathie. Vor allem das Ende wirkt unbefriedigend. Der Ex-Soldat nimmt blutige Rache, die Familie flieht weiter nach England, wo ein wahres Asyl-Paradies wartet. Preisverdächtig ist der Film aber allemal, schließlich muss sich der auffallend politische Trend im Bewerb auch in den Preisen spiegeln.

Leiden und Lieben

Damit hat der ungarische „Son of Saul“, der beeindruckend die Leidensgeschichte eines KZ-Häftlings erzählt, gute Chancen auf den Regie-Preis. Zweiter Schwerpunkt, wie so oft, waren Beziehungsprobleme, ob zwischen Paaren oder unter Familien. Da gehört die griechische Farce „Hummer“, in der liebesuntüchtige Singles in Tiere verwandelt werden, ebenso zum Favoritenkreis wie Todd Haynes’ elegant inszenierte Lesben-Lovestory „Carol“, in der Cate Blanchett und Rooney Mara an den muffigen Konventionen der 50er-Jahre scheitern. Das Damen-Duo liegt auch beim Schauspiel-Preis gut im Rennen, wenngleich die Konkurrenz dort so stark war wie lange nicht. Bei den Filmen selbst blieb der ersehnte Wow-Effekt aus. Ein starkes Mittelfeld, kaum Ausreißer nach unten – aber auch nicht nach oben. Insofern bleibt der Ausgang der Jury-Wahl für Gold bis heute Abend spannend.

DIETER OSSWALD, CANNES

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