Hinter jeder Tür lauert das finstere Nichts. Die bürgerliche Welt bietet keinen Halt mehr. Kein Wunder, dass man da ins Taumeln gerät. Das letzte Bild, in dem ein verstörter französischer Spießer - soeben der albtraumhaften Vorstellung, im Suff zum Mörder geworden zu sein, glücklich entkommen - auf der Suche nach den Resten seines geordneten Lebens in die Leere tappt, ist das stärkste des Abends.

Die Schweizerin Barbara Frey, als Intendantin des Schauspielhauses Zürich Nachfolgerin von Matthias Hartmann, hat die Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" von Eugene Labiche, die sich in der Übersetzung von Elfriede Jelinek seit der Schaubühnen-Aufführung von Klaus Michael Grüber mit Peter Simonischek und Udo Samel 1988 auf den Spielplänen deutschsprachiger Häuser hält, im Wiener Burgtheater inszeniert. Das Kammerspiel würde eher ins intimere Akademietheater passen. Dass es im großen Haus am Ring besteht (und dort sicher für sprudelnde Einnahmen sorgen wird), hat zwei Gründe: eine gelungene Bühnenlösung und famose Schauspieler.

Bühnenbildnerin Bettina Meyer nutzt die Riesenbühne gewitzt: Das großbürgerliche Wohnzimmer ist nur wenige Schritte tief, doch endlos breit. Sechs rote Doppeltüren gehen sich an der Rückwand aus, deren dunkelrote Stofftapeten als endlose Fläche in die Höhe ziehen, wo ein vergleichsweise winziger Luster einen matten Schein wirft. Hinter diesen Türen verbergen sich Schlafzimmer, Waschbecken, Aktenschrank, Hausbar, Treppenhaus und Beinhaus. Letzteres findet als plötzliches surreales Schreckensbild in dem mit Knochen und Totenschädeln verzierten Luster seine Entsprechung. Auch die irritierende Tatsache, dass sich hinter den Türen nicht immer das Erwartete findet, verweist auf die in der Tiefe der Seele schlummernden Ängste.

Geheimnisse

Doch das Heim des wohlhabenden Rentiers Lenglumé, der sich von seiner Gattin nächtens zum Klassentreffen seines Labadenser-Internats davongeschlichen und von dort sternhagelvoll seinen alten Schulfreund Mistingue mitgebracht hat, birgt weitere Geheimnisse. Dazu gehört ein Keller, aus dem Aktenstapel emporgeschleppt werden und ein sich auftürmender Berg an Müllsäcken, der bereits ein Eigenleben entwickelt. Dass die Dame des Hauses dieses mit Fußtritten und Spatenstichen höchstpersönlich zu unterbinden versucht, zählt zu den Rätseln, die Barbara Frey dem Stück hinzugefügt hat, und die sie auch nicht aufzulösen gewillt ist.

Kein Geheimnis macht die Regisseurin aus ihrem Konzept des Unterlaufens des oberflächlichen Schwanks rund um eine verkaterte Nacht: Sie konzentriert sich ganz auf den Blick in den gähnenden Abgrund, der sich unter den morschen Brettern bürgerlicher Moral öffnet. Der Abbruchkante nähert man sich, zumal mit derartigem Restalkohol im Blut, jedoch nur äußerst vorsichtig. Das könnte die eineinhalbstündige Aufführung auch ein wenig langatmig machen. Doch den aufgebotenen Schauspielern könnte man buchstäblich stundenlang zusehen, selbst wenn sie ihre darstellerischen Mittel so deutlich offenlegen wie an diesem Abend.

Kongenial komisch

Nicholas Ofczarek und Michael Maertens geben als einander höchst fremde einstige Kameraden Lenglumé und Mistingue nicht einfach eine Fortsetzung ihres beliebten kongenialen Zusammenspiels im Komödienfach, sondern verfremden und reduzieren Sprache und Körpersprache bis zur Abstraktion. Ihre tappenden und tapsenden Anzieh- und Ausflucht-Paarläufe sind als Choreografien der Orientierungslosigkeit mehr tieftraurig als brüllend komisch.

Blonde Locken, ein Damenschuh, ein Seidenstrumpf, Kirschkerne und Kohlenstaub scheinen sich als Beweise für eine Mordtat zu fügen, über die bereits die Zeitung berichtet. Als Lenglumés Vetter (Peter Matic) sich als vermeintlicher Belastungszeuge entpuppt, bietet die Fortsetzung der offenbar eingeschlagenen Verbrecherkarriere den einzigen Weg aus der Sackgasse. Dass die energische Gattin (Maria Happel in einer furiosen Miniatur) und auch der aufsässige Diener (Markus Meyer) ihr Doppelspiel treiben, weitet den Einzelfall einer b'soffenen G'schicht zur Gesellschaftsdiagnose. Die Fassade steht noch. Dahinter wartet das Ungewisse. Wenig Lacher, aber viel Applaus.