Gegen Ende heißt es auf der Bühne des "Stage Theaters" direkt an der Elbe im Hamburger Hafen "Auch deutsche Jungens dürfen weinen" und vereinzelt wird dieser emotionalen Einladung im Publikum nachgekommen: Als Stürmer Helmut Rahn, gespielt von Dominik Hees, kurz vor Abpfiff zum 3:2 gegen Ungarn trifft, wird auf den gepolsterten Sitzen gejubelt, als säße man auf harten Schalen im Stadion – einige weinen, viele sind kurz davor. Dieses Land lebt Fußball, selbst im Theater.

Deutschland hat sein Sommermärchen 2014 in die Verlängerung geschickt. 15 Wochen nach dem Triumph von "Jogis Jungs" bei der Fußball-WM in Brasilien, wird der erste Titelgewinn von 1954 neuerlich bejubelt. Ab sofort beinahe täglich, auf Hamburgs neuester Musicalbühne.

Und dem Team rund um Gil Mehmert (Autor und Regisseur), Martin Lingnau (Komponist) und Frank Ramond (Liedtexter) gelang mit der Adaption von Sönke Wortmanns Spielfilm "Das Wunder von Bern" aus 2003 ein szenischer und großteils auch musikalischer Volltreffer: Erzählt wird keine reine Sporthistorie, sondern eine Mischung aus einem Familiendrama rund um die Heimkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft und Deutschlands holprigem Weg zum unerwarteten Titel gegen die damals fast unbezwingbaren Ungarn. Ein Erfolg, der bis heute tief im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung verwurzelt ist.

Das Musical ist eine Mischung aus Familiendrama und Fußball
Das Musical ist eine Mischung aus Familiendrama und Fußball © Picturedesk/Daniel Bockwoldt


Wie auch die Nationalmannschaft vor 60 Jahren, kommt das Musical langsam in Fahrt. Bis zu jenem Punkt, als sich das Team von Coach Sepp Herberger (Robin Brosch) per Bus auf den Weg in Schweiz macht: Zu den Klängen von Heinos "Hoch auf dem gelben Wagen" zeigt "Das Wunder von Bern" auch eine große Portion Selbstironie. Ein augenzwinkernder Höhepunkt ist sicher der Titel "Seien Sie nicht zu deutsch", gerichtet an den peniblen Trainer-Fuchs Herberger, aber genauso an die Übergenauigkeit sowie die teilweise Verkrampftheit vieler Deutscher. In den fast drei Stunden fand auch eine Spitze gegen den verzopften Weltverband Platz: Als der Sportjournalist Paul Ackermann (Andreas Bongard) von der "FIFA" spricht, meint seine Frau Anette (Elisabeth Hübert): "Welche Viecher?" Die Ackermanns sind sowohl stimmlich und auch komödiantisch die heimlichen Stars der Produktion und werden am Ende mit einer Extra-Portion Applaus bedacht.

Mag der Fanatismus auch etwas sonderlich wirken, wenn der kleine Mattes in der Kirche für die Aufstellung seines Idols Helmut Rahn betet und der Pfarrer Fußball als einzig einende Weltreligion erkannt haben will, so unterhält die liebevoll erzählte Geschichte dennoch fast über die gesamte Spielzeit (ohne Verlängerung): Eine Handvoll Lieder entwickeln sich noch während des Abends zu Ohrwürmern, gesanglich überzeugt das gesamte Ensemble (die Damen vielleicht etwas mehr) und auch dem Bühnenbild sind die15 Millionen Euro an Produktionskosten anzusehen. Insbesondere kurz vor dem Finale: Während der letzten Minuten zwischen Deutschland und Ungarn wird das Fußballfeld als LED-Wand hochgeklappt und die Kicker spielen die entscheidenden Szenen an Seilen hängend nach.

Schon der Effekt allein erntet Zwischenapplaus, ehe das Publikum dem Match so gebannt folgt, als wäre sein Ausgang unbekannt und stünde nicht seit über 60 Jahren in den Geschichtsbüchern. Die Erleichterung, als der Abpfiff erfolgt, ist jener beim WM-Finale im Juli 2014 nicht unähnlich. Sänger Jürgen Drews war am Sonntagabend zu Tränen gerührt. "Ich habe noch nie bei einem Musical geheult und nicht erwartet, dass mich das so thrillt." Im Publikum saß auch Horst Eckel, einer jener beiden Weltmeister von 1954, die noch am Leben sind: "Nach dem Krieg waren wir am Boden zerstört. Dann kommt eine Fußballmannschaft daher und wird Weltmeister. Da hat man gemerkt, dass ein Ruck durch die Menschen in Deutschland geht."

Der junge Cast aus dem
Der junge Cast aus dem "Wunder von Bern" © Stage Entertainment/Morris Mac M

Das "Wunder von Bern" könnte sich für Hamburg zum nächsten Musical-Hit entwickeln: Das Publikum - sowohl am Sonntag als auch bei den Vorpremieren - war begeistert und auch die Kritiken sind gut. Im Vorfeld wurden rund 80.000 Karten abgesetzt, 500.000 weitere sollen folgen. Die Laufzeit beträgt vorerst ein Jahr, wünschenswert wären für Stage Entertainment zwei. Das "Stage Theater an der Elbe" ließ sich der Veranstalter stolze 50 Millionen Euro kosten. Es liegt übrigens direkt neben der Spielstätte von "König der Löwen". Seit der Premiere 2001 sahen die tierische Geschichte zehn Millionen Besucher und auch heute beträgt die Auslastung noch immer 90 Prozent.

Das neue
Das neue "Stage Theater an der Elbe" © Stage Entertainment

Ob "Das Wunder von Bern" jedoch auch Publikum aus dem Ausland anlocken wird, bleibt fraglich: Schon Schweizer und Österreicher dürften mit dem Triumph des Nachbarn 1954 keine große emotionale Erinnerung verbinden, geschweige denn Musical-Fans aus nicht-deutschsprachigen Ländern. Das heimische Nationalteam belegte damals übrigens Platz drei. Mehr als zwei Erwähnungen Österreichs gibt es im "Wunder" aber nicht. Angesichts eines 1:6 im Halbfinale gegen Deutschland ist es vielleicht auch besser so.