Seit mehr als einem halben Jahrhundert kämpft Ernesto Cardenal für eine bessere Welt. Anlässlich seines bevorstehenden 90. Geburtstags hat sich der gefeierte wie umstrittene Dichter, Priester und Revolutionär auf eine große Reise begeben, die ihn dieser Tage auch nach Österreich führt. In der Blumenhalle von St. Veit an der Glan liest er am 17. November aus seinem neuen Gedichtband „Etwas, das im Himmel wohnt“, musikalisch begleitet von „Grupo Sal Duo“ und wie so oft für einen guten Zweck: für „Pan y Arte“, einen Verein zur Förderung von sozialen und kulturellen Projekten in seiner nicaraguanischen Heimat.

Als Sie 1979 für die Sandinisten das Amt des Kulturministers übernahmen, gab es in Nicaragua rund 70 Prozent Analphabeten. Haben sich die Lebensbedingungen der einfachen Leute in Ihrem Heimatland, sowie in Südamerika generell, spürbar gebessert?
ERNESTO CARDENAL: Es scheint mir, dass sich die Situation eher verschlechtert hat. In Nicaragua und in der Welt. Im Rest der armen Länder ist das offensichtlich. Und auch in den reichen Ländern, wo zum Beispiel Leute Selbstmord begehen, weil sie ihre Wohnung verloren haben. Es gibt eine immer skandalösere Kluft zwischen denen, die in Armut leben und den Milliardären.

Ihr Leben hat sich stets zwischen den gegensätzlichen Polen Widerstand und Meditation, Politik und Poesie bewegt. Hat sich das in den letzten Jahren zugunsten der einen oder anderen Richtung verändert?
CARDENAL: Immer stärker. Mit zunehmendem Alter setze ich weniger politische Aktivitäten und leiste weniger Widerstand. Das kann bedeuten, dass ich mehr in die andere Richtung, zur Kontemplation, tendiere. Ich bin mir da aber nicht so sicher, weil dieser Lebenszustand mehr oder weniger unsichtbar ist. Jemand sagte einmal – ich erinnere mich nicht mehr, wer es war –, dass es das vollkommene Gebet ist, wenn man nicht mehr merkt, dass man sich im Gebet befindet. Vielleicht habe ich gerade genug davon und merke es gar nicht.

Sie verkörpern als Person zwei scheinbar gegensätzliche Weltanschauungen, das Christentum und den Marxismus. Haben Ideologien, wie nicht zuletzt die radikalen Auswüchse im Nahen Osten zeigen, überhaupt noch einen Nutzen für die Menschheit?
CARDENAL: Zwischen Christentum und Marxismus besteht kein Widerspruch. Wegen politischer Fehler wurde das in der Vergangenheit so betrachtet. Die Marxisten wollen eine Gesellschaft ohne Klassen, die Christen eine perfekte Gesellschaft. Wenn die einen die Gottgläubigen nicht verfolgen und sich die anderen nicht mit den Ausbeutern verbünden würden, gäbe es keinen Widerspruch zwischen beiden.

Johannes Paul II. hat Sie 1985 vom Priesteramt suspendiert. Was halten Sie von Papst Franziskus und hätten Sie gerne, dass er Sie, wie erst jüngst den früheren nicaraguanischen Außenminister Miguel d´Escoto, als Priester rehabilitiert?
CARDENAL: Es erscheint mir fast wie ein Wunder, dass die Kardinäle, vor allem konservative und reaktionäre, Papst Franziskus gewählt haben, einen Papst, der nicht wie ein Papst leben will, der nicht im Papstpalast wohnt, der das „Papamobil“ ablehnt und das kleinste Auto des Vatikans bevorzugt. Einen Papst, der selbst telefoniert, der umarmt und umarmt wird. Und der vor allem die Kirche gerade verändert. Papst Johannes Paul verbot mir Sakramente zu spenden. Das hat mir aber nichts ausgemacht, weil ich nicht Priester geworden bin, um Taufen, Erstkommunionen und Hochzeiten zu feiern, sondern um ein kontemplatives Leben zu führen. Und das ist es auch, was mir derzeit gegeben ist. Escoto hat den Papst darum gebeten, wieder Sakramente spenden zu dürfen. Ich habe das nicht getan, weil ich das gar nicht möchte. Es geht mir auch nicht um Rehabilitation.

Was sind für Sie die größten Feinde der Menschheit und wie sollte man diesen entgegentreten?
CARDENAL: Der Feind ist nur einer: Der Mammon, der Geld-Gott, der Geld-Kult, überhaupt alles was Kapitalismus ist. Die daraus resultierende Ungerechtigkeit in der Welt macht mich sehr traurig. Die Botschaft Jesu lässt sich ja auch in dem einen Wunsch zusammenfassen, dass diese Ungerechtigkeit ein Ende haben möge, dass eine brüderliche Gesellschaft kommen möge, das Reich Gottes.

INTERVIEW: ERWIN HIRTENFELDER
Übersetzung: Maider Insunza Ramón