Fast zehn Jahre liegt das Martyrium der Kinder in einer Jugendhilfe-Einrichtung der evangelischen Kirche in Hilden bei Düsseldorf zurück. Unter dem Deckmantel einer umstrittenen "Festhaltetherapie" sollen sie 2006 bis 2008 von ihren Betreuern traktiert worden sein.

2010 kam der Skandal ans Licht. Sechs weitere Jahre später stehen fünf ehemalige Erzieher des inzwischen aufgelösten Diakonie-Unternehmens Educon in Düsseldorf vor Gericht.

45 Minuten lang verlas Oberstaatsanwalt Peter Schwarzwald am Donnerstag die Anklage - eine Aneinanderreihung von Vorwürfen massiver Misshandlung, Erniedrigung und roher Gewalt. Die neun- bis 15-jährigen Opfer waren alle autistische Kinder, die körperliche Nähe oft nicht ertragen und auch gegen sich selbst aggressiv sind.

Täglich traktiert

"Teppichrunde" hieß eine Maßnahme, bei der ein Kind auf einem Sessel saß, den die Erzieher abwechselnd umstießen. Immer wieder musste das Kind laut Anklage den Stuhl aufstellen und sich setzen, stundenlang, bis zu 50 Mal und "bis zur totalen Erschöpfung". Handtücher seien um die Köpfe der Kinder gewickelt worden, so dass sie kaum noch Luft bekamen und in Panik gerieten. Bis zu fünf Erzieher hätten sich auf und eng neben ein Kind gelegt, so dass es sich nicht mehr bewegen konnte.

"Die Opfer wurden beinahe täglich traktiert", so die Anklage. Mit Papiertüchern sei einem Mädchen der Mund verstopft worden. Ein Bub wurde gezwungen, Unkraut und rohen Knoblauch zu essen. Einem Buben, der sich erbrach, sei das Erbrochene wieder in den Mund gestopft worden.

Tortur auf Videos

Während der Torturen hätten die Erzieher die Kinder angeschrien, angespuckt, beschimpft, ihnen mit den Fingern in die Augen gestochen oder sich einfach über ihre Opfer amüsiert, die darum flehten, dass es endlich aufhöre. Mit Wasserpistolen seien die Kinder bespritzt worden, auch in die Nase, bis sie zu bluten begann. Bis zu drei Tage Essensentzug war eine weitere Methode. Die Folge: Ein Kind habe in sieben Wochen zehn Kilogramm Gewicht verloren.

Dass die Jahre zurückliegenden Misshandlungen so detailliert bekannt wurden, liegt auch daran, dass die Erzieher ihre Methoden auf Video dokumentierten. Fast 200 Stunden Aufnahmen dienen dem Gericht als Beweismaterial. Waren die Erzieher sich nicht bewusst, wie sie die angebliche Therapie pervertierten und was sie den Kindern antaten?

Offiziell sollten die Erzieher die Kinder mit der "IntraActPlus"-Methode therapieren, damit sie lernen, körperliche Nähe zu ertragen. "Aber das was hier geschehen ist, ist mit den rechtlich zulässigen Möglichkeiten einer Therapie nicht ansatzweise in Übereinstimmung zu bringen", sagt Oberstaatsanwalt Schwarzwald.

"Teufelskreis" für die Opfer

Die fünf Angeklagten wollten sich zum Prozessauftakt noch nicht äußern. Educon wurde inzwischen wieder in die Muttergesellschaft Graf-Recke-Stiftung zurückgeführt. Die Stiftung hatte alle beschuldigten Mitarbeiter nach Bekanntwerden des Skandals entlassen und neue Kontrollmechanismen für die Betreuung Jugendlicher entwickelt.

Die Psychotherapeutin Sibylle von Eicke, eine scharfe Kritikerin der IntraAct-Therapie, spricht von einem "Teufelskreis" für die Opfer. Das zynische Ziel sei: "Erst wenn sie völlig aufgegeben haben, dann fließt die Liebe."