Die Zukunft ist nah, und weil sie nicht in Österreich wohnt und nicht in Europa, muss man weit reisen, um sie zu besichtigen. Die Zukunft heißt Songdo und liegt in Südkorea, eine Autostunde südwestlich der Hauptstadt Seoul. Vom Flughafen Incheon ist dieses digitale Utopia nicht mehr fern. Man fährt über eine zwölf Kilometer lange Brücke und blickt ihr entgegen, Songdo, der Stadt der Zukunft. So rühmt sie sich.

Sie ist nicht leicht zu beschreiben, denn sie hat kein Gesicht und keine Geschichte. Songdo ist 15 Jahre alt und in zwei Jahren fertig. Das Ensemble der Wolkenkratzer könnte überall stehen, nur der Abstand zwischen den Bauten ist auffallend groß. Was ausschaut wie Zahnlücken, lässt Platz für die Sonne, so wollten es die Schöpfer, ein koreanisch-amerikanisches Immobilien-Konsortium.

Roboter Hubo in seinem Wohnzimmer der südkoreanischen Elite-Universität KAIST. Hubo ist spezialisiert auf Katastropheneinsätze in verstrahltem Gelände. Die Wirtschaftskammer schloss mit der Elite-Uni ein Kooperationsabkommen
Roboter Hubo in seinem Wohnzimmer der südkoreanischen Elite-Universität KAIST. Hubo ist spezialisiert auf Katastropheneinsätze in verstrahltem Gelände. Die Wirtschaftskammer schloss mit der Elite-Uni ein Kooperationsabkommen © Patterer

Für 40 Milliarden Dollar errichteten sie auf dem Reißbrett ein Atlantis für die vernetzte Generation und die Business-Welt. Die Planstadt ist urbane Freihandelszone, in wenigen Flugstunden erreicht man ein Drittel der Weltbevölkerung. Songdo beherbergt Banken, Technologie-Firmen, internationale Schulen, Unis, Einkaufszentren, Kulturtempel und Wohnungen, konzipiert für eine viertel Million Menschen. Ein Drittel hat sich dort niedergelassen, es sind mehrheitlich Junge und Wohlhabende, denen das nahe, vibrierende Seoul zu laut und hektisch ist. Hier wirkt alles heruntergekühlt.

Die Baumasse entspricht jener von Boston. 30 Prozent sind Grünfläche. An der Peripherie betreiben ehemalige Fischer, die dem aufgeschütteten Küstenstreifen am Gelben Meer weichen mussten, städtischen Ackerbau. Das Herzstück, der Central Park, ist dem New Yorker Original nachempfunden. Hasen und Wild vermitteln eingehegt den Anschein intakter Natur. Auf einem Salzwasserkanal, der an Venedig erinnern soll, verkehren elektrisch betriebene Wassertaxis. Ein wenig wirkt diese identitätslose Kunststadt wie ein steriles Minimundus.

Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl beim virtuellen Paragleiten am koreanischen Forschungsinstitut Mitra.
Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl beim virtuellen Paragleiten am koreanischen Forschungsinstitut Mitra. © APA/THOMAS KARABACZEK

An diesem Herbsttag sind die breiten Straßen mit ihren Ladestationen nahezu menschenleer. Man könnte glauben, die Stadt sei evakuiert worden. Weder Autos noch Fußgänger sind zu sehen. Fixe Abstellplätze sind nur Fahrzeugen mit niedrigem Schadstoffausstoß vorbehalten, der Rest verschwindet in Tiefgeragen. Die Wirtschaftsdelegation, angeführt von Kammerpräsident Christoph Leitl, wird in das „Smart City Control Center“ geleitet. Der fensterlose Big-Data-Bunker schaut aus wie eine Mischung aus Asfinag-Leitfunkzentrale, Raumschiff Enterprise und George-Orwell-Labor. Hinter einer schalldichten Glasfront dürfen die Gäste unter strengstem Fotografierverbot auf eine Videowand blicken, ein gigantisches Mosaik aus elektronischen Bildern und visualisierten Daten, die tausend Kameras und Sensoren von den Straßen, Plätzen und Parks ins Innere übertragen.

Fünfzig Mitarbeiter sitzen vor ihren Schirmen und können die geringste Auffälligkeit in Nahaufnahme und Echtzeit herbeizoomen. Jedes Autokennzeichen ist vergrößert lesbar. Im Notfall blinken auf den Tischen rote Warnlampen. Dann heulen sie auf wie nächtliche Polizeistreifen in den Straßen Manhattans. Songdo wird nie Stiwoll. Auf skeptische Fragen der Besucher reagiert das Management verstört: „Wir erfassen nur, was öffentlich ist. Es ist die sicherste Stadt der Welt. Wir Koreaner sind stolz auf unsere Technologie. Die Bewohner sind glücklich.“

Sie leben in einer digitalen Kommune. Jeder ist mit jedem vernetzt. Auf den Fernsehgeräten sind Kameras integriert, über die skypen die Mieter mit Mitbewohnern, dem Arzt, dem Fitnesstrainer oder dem Englischlehrer im fernen London. Man bleibt daheim und doch in der Welt. Modernes Biedermeier. Vielleicht sind deshalb die Straßen entvölkert.

Es gibt keine Schlüssel, jeder hat eine anonyme Chipkarte, die für die Bank im Stadtviertel ebenso gilt wie fürs Kinoticket, die Shops, den städtischen Bus oder die Wohnungstür, die sich von allein öffnet. Die Gänge in den Stockwerken sind mit Sensoren ausgestattet, kommt ein alleinstehender Bewohner zu Sturz, erhält der Hausverwalter, der nicht Mundl, sondern ein Datenmanager ist, ein Alarmsignal auf sein Handy. Desaster-Administration nennt sich die neue Fürsorglichkeit. Gegen jede Unbill ist ein digitales Kraut gewachsen. Ein Kind, das im Werbevideo beim Shopping verloren ging, wird von den Eltern im Nu in die Arme geschlossen. Ein Sensor auf der Zahnspange macht’s möglich.
Die neue Technik ist ein Hund, ein Wachhund. Sie ist die Gouvernante des 21. Jahrhunderts, die liebenswert und allwissend nervt. Ab dem dritten Glas Wein piepst der virtuelle Doktor auf dem Handy und erinnert an die Leberwerte. Der echte Doc kriegt in Abwesenheit alles mit, er muss seine Patienten nicht mehr vor sich haben. Tele-Präsenz. Auch der Mieter erfährt alles, ob er will oder nicht. Aus der täglichen Ab- und Anwesenheit errechnet künstliche Intelligenz den idealen Energieverbrauch. Selbst die Beleuchtung auf den Straßen geht erst an, wenn sich Passanten oder Autos ihr nähern. Die Stadt der Zukunft ist ein smartes Monster der Effizienz und Nachhaltigkeit. Alles Gute kommt hier von unten. So werden die Abfälle von jeder Küche in Spezialbehältern durch ein unterirdisches Rohrsystem zu Recyclinganlagen und Kraftwerken gepumpt, wo Biogas entsteht. Eine städtische Müllabfuhr kennt Songdo nicht.

Aus der leidvollen Erinnerung speist sich der ganze Ehrgeiz und Bildungshunger des Staates und der Älteren, den sie auf die Jungen übertragen. Acht von zehn Jugendlichen steuern im Sog der elterlichen Erwartungen eine akademische Laufbahn an und ordnen dem Ziel alles unter. „Viele werden zur bloßen Absicherung schon mit acht in ein Nachhilfe-Institut gesteckt“, weiß Schröder, „oft bis spät in die Nacht. Dafür opfern Familien ihr ganzes Einkommen.“ Es gibt Jugendliche, die am Druck zerbrechen. Alljährlich werden am Maturatag die Mitarbeiter der Betriebe aufgefordert, später zur Arbeit zu kommen, damit die Straßen für die Prüflinge staufrei bleiben. Während des Prüfungsabschnitts mit den Hörbeispielen dürfen keine Flugzeuge abheben. Und im Fernsehen diskutieren am Abend Experten über die Prüfungsbeispiele. Das alles mutet etwas überspannt an, zeigt aber den Stellenwert, den Südkorea der Bildung beimisst. Sie ist hier ein nationales Glaubensbekenntnis. Man misst sich mit den Besten der Welt und ist stolz, zu ihnen zu gehören.

Ein wenig von dieser Haltung hätten die Teilnehmer der Wirtschaftsdelegation gerne eingepackt für daheim. Das Land muss raus aus seiner Technikfeindlichkeit, seiner mit Stolz ausgelebten Mathematik-Phobie und aus der Durchschnittsfalle. Das war das Fazit von Songdo. Auch wenn die wenigsten dort leben möchten.