Es ist ein besonders grausames Verbrechen, das Indien aufwühlt und tatsächlich auch zu Gesetzesänderungen führt. Eine Medizinstudentin namens Jyoti Singh wird in einem Bus in Neu Delhi von sechs Männern mit größter Brutalität vergewaltigt, vor fünf Jahren am 16. Dezember 2012. Sie stirbt 13 Tage später an ihren Verletzungen im Alter von 23 Jahren.

Rechtliche Verschärfungen

Tausende Inder gehen auf die Straße, einige drücken ihre Wut auch mit Gewalt aus. Wenige Monate später werden die Strafen für Vergewaltigungen verschärft und andere Sexualstraftaten neu in das Gesetz aufgenommen. Außerdem werden für manche Vergewaltigungsfälle Schnellverfahren eingeführt. Fünf Jahre danach geschehen ähnliche Verbrechen aber immer noch mit furchtbarer Regelmäßigkeit.

Eine 100-Jährige wird auf ihrer Veranda vergewaltigt und stirbt kurz darauf. Drei Männer missbrauchen eine junge Frau in einer fahrenden Autorikscha und werfen ihr neun Monate altes Baby aus dem Fahrzeug. Unabhängig voneinander stellen zwei Vergewaltigungsopfer im Alter von zehn und 13 Jahren Anträge beim Obersten Gerichtshof, nach Ablauf der gesetzlichen Frist noch abtreiben zu dürfen. Beide bringen Kinder zur Welt, das Baby der 13-Jährigen stirbt nach zwei Tagen. All diese Fälle stammen aus dem vergangenen halben Jahr.

"Ich habe das Gefühl, dass sich trotz der ganzen Proteste und Berichte in den Medien für die Sicherheit der Frauen in diesem Land nicht viel getan hat", sagt Jyoti Singhs Mutter, Asha Devi. "Jeden Tag sehe ich in den Nachrichten, dass Frauen und sogar Kinder vergewaltigt und missbraucht werden, und es macht mich sehr wütend und traurig."

Mörder zeigte keine Reue

Jyoti und ein Freund waren an einem Sonntagabend im relativ modernen und wohlhabenden Süden der Hauptstadt im Kino. Danach steigen sie in einen Bus, um nach Hause zu fahren. Der Fahrer, sein Bruder und vier ihrer Freunde verprügeln beide und zerren Jyoti in den hinteren Teil des fahrenden Busses. Dort wechseln sie sich damit ab, sie zu vergewaltigen. Sie greifen dabei auch zu Metallstäben.

Im britischen Dokumentarfilm "India's Daughter" von 2015 spricht einer von Jyotis Mördern über das Verbrechen. Einer der anderen habe "etwas Langes" aus Jyotis Körper gerissen - ihre Eingeweide. Der junge Mann zeigt keine Reue. Ein anständiges Mädchen treibe sich um 21.00 Uhr nicht auf der Straße herum. Dieselbe Ansicht vertritt in dem Film auch der Anwalt der Täter. Solche Argumente müssen sich Opfer noch heute immer wieder von Polizisten und Politikern anhören.

Proteste in ganz Indien führten zu rechtlichen Verschärfungen
Proteste in ganz Indien führten zu rechtlichen Verschärfungen © AP

Für eine staatliche Studie von 2007 wurden mehr als 12.000 Kinder in 13 indischen Bundesstaaten befragt. 53 Prozent von ihnen gaben an, sexuell missbraucht worden zu sein. "Anhand unserer Erfahrung würde ich die Zahl viel höher schätzen - etwa 85 bis 90 Prozent", sagt Ashwini Ailawadi, Mitgründer der Rahi-Stiftung. Die Organisation betreut Frauen, die als Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, und macht auf die Verbreitung dieses Problems aufmerksam.

Die Täter seien fast immer Angehörige oder Freunde der Familie, erklärt Ailwadi. "Das indische Familiensystem begünstigt Missbrauch." Den Kindern werde beigebracht, Erwachsenen unbedingt zu gehorchen und die Ehre der Familie zu bewahren. Sie könnten sich bei Missbrauch an niemanden wenden, auch wegen der Rolle der Frau: "Angenommen, der Täter ist der Vater oder ein älterer Mann in der Familie, von dem die Frau finanziell abhängig ist - die Frau hat keine Macht, das anzusprechen oder dem Kind zu helfen."

Opfer nicht ernst genommen

Im vergangenen Jahr wurden laut offizieller Statistik knapp 39.000 Vergewaltigungen in Indien registriert. Hinzu kamen rund 85.000 Nötigungen - "Übergriffe auf Frauen mit der Absicht, ihren Anstand zu verletzen", wie es hier heißt. An der Bevölkerungszahl gemessen ist die Rate in Indien nur geringfügig höher als etwa in Deutschland. Die Dunkelziffer dürfte aber deutlich höher sein.

Viele Sexualverbrechen werden in Indien unter anderem deswegen nicht angezeigt, weil die Opfer häufig nicht ernst genommen werden. "Wir haben eine für Geschlechterfragen unsensible, voreingenommene Justiz und eine ineffiziente, überarbeitete und ebenso voreingenommene und unsensible Polizei", meint die Anwältin und Aktivistin Kirti Singh.

Im September hob ein Gericht die Verurteilung eines Filmregisseurs wegen Vergewaltigung einer Studentin mit der Begründung auf, das Opfer habe nicht mit genug Nachdruck "nein" gesagt. "Ein schwaches "Nein" kann "ja" bedeuten", schrieb der Richter.

Warten auf Gerechtigkeit

In Jyotis Fall wird einer der Täter kurz nach seiner Verhaftung erhängt in seiner Zelle gefunden. Ein weiterer war zum Tatzeitpunkt minderjährig. Er sitzt eine dreijährige Jugendstrafe ab und ist seit Dezember 2015 wieder frei. Die übrigen vier warten noch auf den Ausgang einer gerichtlichen Nachprüfung ihrer vom Obersten Gericht bestätigten Todesurteile. Sie sollen durch den Strang sterben.

Die vier zum Tode verurteilten Vergewaltiger
Die vier zum Tode verurteilten Vergewaltiger © AP

Für Jyotis Mutter dauert es mit der Vollstreckung zu lange. "Wie wir warten Tausende Eltern in diesem Land auf Gerechtigkeit", sagt sie. Der Kern des Problems stecke aber in den Köpfen der Menschen. "Eltern müssen Mädchen und Buben gleich behandeln und vor allem ihre Söhne so erziehen, dass sie Frauen respektieren", meint sie. "Nur dann wird sich etwas ändern."