Tausende Menschen haben sich zu einer Solidaritätskundgebung für die Opfer der Londoner Brandkatastrophe im Regierungsbezirk Westminster versammelt. Mit Bannern, Plakaten und Sprechchören machten die Demonstranten am Freitagabend vor dem Ministerium für Kommunen ihrer Wut auf die Regierung Luft. Die Behörde ist unter anderem für den Wohnungsbau verantwortlich.

Die Demonstranten skandierten "May muss gehen!", als sie Richtung Downing Street - dem Sitz der Premierministerin - marschierten. Die Kundgebung stand unter dem Motto "Justice for Grenfell!" (Gerechtigkeit für Grenfell).

Nach dem Unglück geben viele Bürger der britischen Regierung eine Mitschuld an dem Feuer in dem Hochhaus im Stadtteil Kensington.

Opferzahl steigt

Medienberichten zufolge, gelten am Freitag immer noch 70 Menschen als vermisst. Es sei zu befürchten, dass sie ums Leben gekommen seien, berichtete die Zeitung "The Sun" am Freitag. Die Polizei hat bisher den Tod von 17 Menschen bestätigt, aber hinzugefügt, dass die Zahl noch steigen dürfte. Auf die Frage, ob es mehr als 100 Todesopfer sein könnten, sagte Polizeichef Stuart Cundy am Donnerstag: "Ich hoffe, dass es nicht eine dreistellige Zahl sein wird." Am Freitagnachmittag sprach die Polizei bereits von 30 Toten.

In der Zwischenzeit wurde das erste Opfer identifiziert. Es handelt sich um einen syrischen Flüchtling namens Mohammed Alhajali.

Sein Bruder Omar brach in Tränen aus, als er von der Flucht der beiden aus dem 14. Stock berichtete. Omar dachte, dass sein Bruder entkommen konnte, er hatte ihn allerdings aus den Augen verloren. Nun wurde bekannt, dass Mohammed es nicht ins Freie geschafft hat. Kurz vor seinem Tod hatte er noch mit Omar telefoniert:

Familienvater als Held gefeiert

Marcio Gomes und seine Familie entkamen den Flammen und dem Rauch im Grenfell Tower - weil der 38-Jährige noch einmal in das Flammeninferno zurückkehrte. Die britische Medien Feiern ihn als "Hero Dad".  "Wir wurden von unserer Tochter getrennt, weil wir nichts mehr sehen konnten", sagte der Gomes zur "Sun". 

Die vierköpfige Familie war gemeinsam aus dem 21. Stock des brennenden Gebäudes geflohen. Aufgrund des Rauchs kam die Familie erst in den unteren Etagen drauf, dass sie nicht mehr vollzählig war.  Marcio, seine schwangere Frau Andreia und die zehnjährige Tochter Megan hatten es in die unteren Etagen geschafft. Die zwölfjährige Luana war am Weg verloren gegangen. Marcio drehte sofort um und eilte durch den dichten Rauch zurück. Schließlich fand er die Zwölfjährige einige Stockwerke weiter oben. Das Mädchen war durch den dichten Rauch bewusstlos geworden. Er habe dann laut nach Feuerwehrleuten gerufen, die das Mädchen schließlich nach unten gebracht hätten, berichtete er. 

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Neue Wohnungen für Bewohner

Alle Bewohner des Hochhauses sollen bis zum Wochenende neue Wohnungen erhalten. Das sagte Megan Hession von der Stadtverwaltung in Kensington und Chelsea am Freitag. Zahlreiche Menschen hatten auch die vergangene Nacht noch in Turnhallen und Hotels verbracht. Der Brand in der Nacht auf Mittwoch hat den 24-stöckigen Grenfell Tower zerstört. In dem Sozialblock lebten bis zu 600 Menschen in mehr als 120 Wohnungen. Premierministerin Theresa May hat eine umfassende Untersuchung der Ursache angekündigt.

Hoher Besuch in Notunterkunft

Königin Elizabeth II. und Prinz William haben Opfer und Helfer der Brandkatastrophe am Grenfell Tower in London getroffen. Die Queen und ihr Enkel besuchten am Freitag eine Notunterkunft in einem Fitnesscenter im Stadtteil Kensington in der Nähe des Brandorts.

© AP

Schon am Donnerstag hatte die Monarchin den Mut der Feuerwehrleute und die "unglaubliche Großzügigkeit" der freiwilligen Helfer gewürdigt. Bei dem Hochhausbrand kamen in der Nacht auf Mittwoch mindestens 17 Menschen ums Leben. Dutzende weitere werden noch vermisst.

Auch Theresa May hat Opfer des Unglücks im Krankenhaus besucht. May wollte später am Freitag ein Treffen mit Regierungsvertretern zu Hilfsmaßnahmen für die Opfer leiten. Die Premierministerin war zuvor heftig in die Kritik geraten, weil sie bei ihrem Besuch am Grenfell Tower am Donnerstag nicht mit Opfern des Unglücks gesprochen hatte.

Der Oppositionsführer und Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte unterdessen Betroffene getröstet.

Verzweifelte Suche nach Vermissten

Bei dem gewaltigen Brand wurden am Mittwoch 65 Menschen von der Feuerwehr aus den Flammen gerettet, anderen gelang selbst die Flucht.  Am Freitag wurden noch 24 Menschen in Krankenhäusern der britischen Hauptstadt behandelt. Der Zustand von zwölf Patienten sei derzeit kritisch, teilte die Gesundheitsbehörde am Freitag mit.

Über die Medien und die sozialen Netzwerke suchten Angehörige weiter nach einigen Vermissten. Zu ihnen gehört die Fotografin Khadija Saye, deren Werk zurzeit bei der Biennale in Venedig gezeigt wird. Sie lebte gemeinsam mit ihrer Mutter im Grenfell Tower, von der ebenfalls jede Spur fehlte. Laut Bericht der Sun  vom Freitag ist die 24-jährige Künstlerin im Feuer gestorben. Sie hatte noch auf Facebook folgende Nachricht verschickt: 

Über das Schicksal ihrer Mutter ist bislang nichts bekannt.

Vermisst wurde auch der 65-jährige Tony Disson, in seinem letzten Anruf bat er einen Freund, er solle seinen Söhnen sagen, "dass ich sie liebe".

 Brandkatastrophe im Grenfell Tower
Brandkatastrophe im Grenfell Tower © (c) APA

Solidaritätskundgebung angekündigt

Aktivisten riefen für den Abend zu einer Solidaritätskundgebung im Regierungsbezirk Westminster. Die Demonstration soll vor dem Ministerium für Kommunen stattfinden, das auch für Wohnungsbau verantwortlich ist. Nach dem Unglück geben viele Bürger der britischen Regierung eine Mitschuld an der Brandkatastrophe. Auf Facebook hatten am Freitagvormittag schon knapp 2.000 Demonstranten ihre Teilnahme an der Kundgebung unter dem Motto "Justice for Grenfell!" (Gerechtigkeit für Grenfell) angekündigt.

Italien bangt um junges vermisstes Paar

Die beiden 27-jährigen Architekten aus der Region Venetien waren im März nach London gezogen und hatten im Grenfell Tower eine Wohnung gemietet. "Wir hegen kaum noch Hoffnung, dass Gloria und Marco noch am Leben sind. Doch bis zum Schluss wollen wir an ein Wunder glauben", sagte der Vater des jungen Mannes aus der Provinz Venedig, der mit seiner aus der Nähe von Padua stammenden Freundin nach London gezogen war. Die junge Frau habe sich aus dem brennenden Haus telefonisch noch von ihrer Mutter verabschiedet. "Unser Sohn hat uns noch gesagt, dass die Wohnung voller Rauch und die Lage kritisch war. Danach haben wir nichts mehr von ihm gehört", berichtete der Vater. Ein Bruder des Vermissten reiste nach London

Fassadendämmung als Brandbeschleuniger

Die Ursache für den Brand bliebt zunächst unklar, doch verstärkten sich Vermutungen, sie könne mit der jüngsten Renovierung des 24-stöckigen Gebäudes zusammenhängen. Das Hochhaus aus den 70er Jahren wurde bis zum vergangenen Jahr für umgerechnet 9,9 Millionen Euro aufwändig renoviert. Vor allem die Fassade wurde saniert und gedämmt. Experten vermuten, die Fassadendämmung könnte ein Grund dafür sein, dass sich der Brand so schnell ausbreitete.