APA: Woher kommt eigentlich diese Musikfeindschaft, die ja eigentlich sehr selektiv ist, wenn man die musikalisch unterlegten Videos der IS-Propaganda hernimmt?

Islam-Experte Thomas Schmidinger:"Es gibt islamische Traditionen, die Musik ablehnen, wobei es hier um instrumentalisierte Musik zur Unterhaltung geht und z. B. nie um Gesang. Andererseits wurde Musik - auch mit Instrumenten - in anderen muslimischen Traditionen wie zum Beispiel dem Sufismus - auch zu rituellen Zwecken eingesetzt. Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass der IS mit Anschlägen auf Konzerten vor allem Musik treffen will. Das Ziel besteht vielmehr darin, auf einem Massenereignis möglichst viele Menschen zu töten und damit ein Maximum an Terror auszuüben.

Zudem hat sich sowohl der Anschlag damals in Paris als auch der in Manchester natürlich gegen Konzerte gerichtet, die auch als Symbol westlicher Lebensweise, mit Alkoholkonsum, Menschen, die miteinander flirten usw. angegriffen wurden."

APA: Also ging es um ein Konzert vor allem als Vehikel für eine große Menschenansammlung, wo eben möglichst viele Opfer zusammenkommen?

Schmidinger: "Und eine Lebensweise zelebrieren, die geradezu als Antithese zu jener des IS gelesen werden kann: Vergnügen im Diesseits, Liebe..."

APA: Auch das meist schnell verhängte Musikverbot, wenn der IS oder die Taliban in ein neu erobertes Gebiet einmarschieren, betrifft ausschließlich Instrumentalmusik? Spielt es eine Rolle, dass es um ein Konzert einer jungen Frau ging?

Schmidinger: "Ja, das kann eine Rolle spielen. Instrumentalmusik und eine Sängerin ist natürlich besonders haram. Das ist selbst in Regimen, die nichts mit dem Jihadismus zu tun haben, aber anderen Strömungen des Politischen Islam zuzurechnen sind, vielfach verboten. Auch im Iran gibt es z. B. keine öffentliche Auftritte weiblicher Solo-Sängerinnen. Was Musikverbote der Taliban und des IS betrifft: Gesang von Männern wurde nie verboten, nur Musik mit Musikinstrumenten. Bei den Taliban war jegliche Unterhaltungsmusik verboten. So ähnlich praktiziert das auch der IS. Allerdings wird religiöse Musik bzw. Musik zu Propagandazwecken sehr wohl verwendet. Die sogenannten Nashid spielen z. B. für die IS-Propaganda eine wichtige Rolle."

APA: Das ist das, was man in den IS-Videos als Unterlegung hört?

Schmidinger: "Genau, das sind von Männern a cappella vorgetragene religiöse Gesänge, die sehr oft auch Erinnerungen an islamische Schlachten und Ähnliches zum Inhalt haben."

APA: Welche Entwicklungen können Sie in den vergangenen Jahren in den Anschlägen erkennen, die dem IS zugeschrieben werden? Wie sehen Sie in dem Zusammenhang mittlerweile die Möglichkeiten der geheimdienstlichen Informationsbeschaffung zum IS?

Schmidinger: "Die Zunahme an Anschlägen in Europa ist Ausdruck der militärischen Schwäche des IS in der Region. Da es mit dem Aufbau des 'Kalifats' nicht mehr so gut läuft, wird wieder auf die alten Methoden der Al Qaida zurückgegriffen, mit spektakulären Anschlägen im Westen für Angst und Schrecken zu sorgen.

Man muss da allerdings zwischen großen, zentral geplanten Anschlägen des IS unterscheiden und Anschlägen, die von Kleinstgruppen oder Einzelpersonen im Namen des IS verübt werden. Diese "homegrown terrorists" mit geringen oder gar keinen organisatorischen Verbindungen zum IS sind kaum zu überwachen und gegen diese würde auch ein massiver Ausbau des Überwachungsapparates nichts nützen.

Und selbst gegen organisierte IS-Zellen hilft klassische human intelligence oft wesentlich eher als lückenlose und damit vielfach auch wahllose Überwachung."

APA: Ist die Unterwanderung des IS aber gelungen? Gibt es da mittlerweile gute Quellenlagen? Können Sie das einschätzen?

Schmidinger:"Es scheint schon so zu sein, dass es einzelnen Geheimdiensten gelungen ist, Informanten im IS anzuwerben oder einzuschleusen. Das heißt aber nicht, dass die wiederum alles Wichtige wissen würden. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass innerhalb des IS genau davor eine ziemliche Panik herrscht und deshalb auch innerhalb der Organisation niemand viel mehr weiß, als er wissen sollte. Außerdem zeigen Fälle wie die übergelaufene FBI-Agentin, Daniela Green, die sich in Cuspert (der ehemalige deutsche Rapper und nunmehrige IS-Kämpfer Denis Cuspert alias Deso Dogg, Anm.) auch verliebt hat, dass in diesem Bereich immer wieder menschliche Fehlerquellen möglich sind."

APA: War das immer schon so, dass der IS dieses "need to know"-Prinzip hatte?

Schmidinger: "Über die interne Struktur des IS wissen wir relativ wenig und ich fürchte, dass die meisten Geheimdienste da auch nicht sehr viel mehr wissen. Was ich sagen kann, ist, dass die Rückkehrer aus dem IS, mit denen ich sprechen konnte, außer über ihren unmittelbaren eigenen Einflussbereich und das tägliche Leben im IS relativ wenig wussten. Das waren aber auch alles keine hochrangigen Kommandanten, sondern Europäer, die sich dem IS angeschlossen hatten und dort eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben."

APA: Was man doch sicher auch sagen kann, ist, dass der IS natürlich hochgradig konspirativ arbeitet und dabei dieses Prinzip ja nur logisch ist, oder?

Schmidinger: "Ja, selbstverständlich arbeitet der IS konspirativ, ganz besonders in Europa!"

APA: Weiß man etwas darüber, welche Auswirkungen die Bedrängnis, der sich der IS gegenübersieht, auf die Organisation hat? Gibt es Auflösungstendenzen, neue Strömungen oder womöglich interne Konflikte?

Schmidinder:"Was man weiß, ist, dass es im Laufe der letzten Monate vermehrt zu internen Säuberungen und Erschießungen gekommen ist. Ob man das schon als Auflösungstendenzen bezeichnen kann, ist aber fraglich. Immerhin schafft es der IS in Mosul seit über einem halben Jahr, die irakische Armee, schiitische Milizen und kurdische Peshmerga zu binden und weiter militärisch Widerstand zu leisten. Da würde ich noch nicht von Auflösungstendenzen sprechen.

Außerdem gibt es Hinweise auf Gespräche zwischen IS und Al Qaida über eine mögliche Wiedervereinigung. Ob das tatsächlich geschehen wird, lässt sich nicht sagen. Aber auch so ein Szenario ist denkbar."

APA: Würde das überhaupt noch einen großen Unterschied machen angesichts der Verfassung von Al Qaida?

Schmidinger:"Die alte Al Qaida sollte man nicht unterschätzen. Da sind immer noch sehr starke Organisationen wie die somalischen al-Shabab-Milizen oder al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel, die im Jemen Gebiete kontrollieren, dabei. Auch die Verbindungen der ehemaligen Jabhat al-Nusra in Syrien sind trotz Umbenennung und formalem Austritt 2016 nicht abgerissen. Eine Wiedervereinigung von Al Qaida und IS würde mit Sicherheit eine Stärkung der Jihadisten bedeuten."

APA: Also sind wir weit davon entfernt, den wahhabitischen Salafismus unter Kontrolle zu haben? Gibt es darüber hinaus Erkenntnisse, dass sich die Geldflüsse hier geändert haben? Es gab ja immer wieder Spekulationen, dass einflussreiche saudi-arabische Kreise und solche aus anderen Golfstaaten sehr wohl an der Finanzierung dieser Gruppen beteiligt waren oder sind?

Schmidinger:"Davon kann nicht die Rede sein. Der IS ist derzeit im Niedergang begriffen. Der wahhabitische Salafismus ist stärker denn je. Mit dem jüngsten Waffendeal (Donald) Trumps in Saudi-Arabien und der klaren Ansage, dass Saudi-Arabien jetzt wieder der unbestrittene Hauptbündnispartner neben Israel in der Region sein wird, hat Trump Wahhabismus und Salafismus massiv gestärkt. Saudi-Arabien hat in diesem ideologischen Umfeld immer eine wichtige Rolle gespielt und die USA sind unter Trump diesbezüglich offenbar zu einer unkritischen Unterstützung Saudi-Arabiens zurückgekehrt. Das heißt nicht, dass Saudi-Arabien direkt den IS unterstützt, aber eine Form des Islam und verschiedene Gruppen, die einen solchen propagieren, der natürlich in seinen Positionen salafistisch und wahhabitisch ist und in manchem dem IS durchaus nahesteht. Die saudische Politik im Jemen, Bahrain oder in Syrien wird aber noch völlig unabhängig vom IS katastrophale Auswirkungen auf die Region haben."

Das Gespräch führte Gunther Lichtenhofer via Facebook.