In Mittelitalien sitzt der Schock nach dem schweren Erdbeben am Sonntag tief. Tausende Menschen, die die Nächte in Zelten, Notunterkünften oder im Auto verbracht haben, verlassen die Erdbebenregion. Viele zogen in Hotels an der Adria-Küste. "Die Gefahr ist, dass unsere Dörfer aussterben", klagte der Bürgermeister der zerstörten Gemeinde Ussita, Marco Rinaldi.

70 Gemeinden wurden zerstört

Mehr als 15.000 Menschen seien in den Unterkünften des Zivilschutzes versorgt worden, teilte dieser am Montag mit. Die Zahl der Obdachlosen wird aber weit höher geschätzt. 70 Gemeinden wurden zerstört. Laut dem Zivilschutz wurden allein in Marken 25.000 Obdachlose gezählt. Befürchtet wird, dass diese Zahl auf 100.000 steigen könnten.

"Wir brauchen Zelte und Wohnmobile. Viele Bürger haben hier ihre Betriebe, Geschäfte und Landwirtschaftsunternehmen und wollen die Region nicht verlassen", sagte der Vizebürgermeister der Ortschaft Preci, Paolo Masciotti. Preci zählt zu Gemeinden, die die stärksten Schäden erlitten haben.

Der ganze Stadtkern von Norcia in Umbrien, Epizentrum des verheerenden Bebens, wurde geräumt. Die Schäden für das Kunsterbe sind enorm. Mehrere historische Kirchen sind verwüstet, darunter die aus dem 14. Jahrhundert stammende Basilika des Heiligen Benedikts, die Kathedrale Santa Maria Argentea aus dem 9. Jahrhundert nach Christus und die um das Jahr 1385 erbaute Kirche des Heiligen Franziskus. Der Kirchturm der Kathedrale war bereits im 16. Jahrhundert eingestürzt. Im 18. Jahrhundert brach wegen eines Erdbebens der gotische Turm ein. Die Kirche des Heiligen Franziskus beherbergt ein wertvolles Archiv.

"Mauern stürzen ein, doch nicht unsere Werte"

Trotz des schweren Erdbebens wollen die Benediktinermönche Norica nicht verlassen. "Ich kann es immer noch nicht fassen. Hier sind die Wurzeln des Heiligen Benedikts. Die Mauern stürzen ein, doch nicht unsere Werte. Wir verlassen Norcia nicht und mit Gottes Hilfe werden wir Stein auf Stein alles wiederaufbauen", sagte Pater Bruno Marin, Leiter der benediktinischen Kongregation, laut Medienangaben.

In Norcia wurden auch mehrere Ordensschwestern gerettet, die sich in einem Klausurkloster befanden. Die Feuerwehrleute mussten das Tor aufbrechen, um zu den Klosterfrauen zu gelangen.

Unzählige Gebäude, die bereits bei den Erdstößen am Mittwochabend schwer in Mitleidenschaft gezogen worden waren, stürzten ein. Aleandro Petrucci, Bürgermeister der Ortschaft Arquata, die bereits am 24. August von einem schweren Erdbeben betroffen war, sagte, das ganze Dorf sei zerstört. "Arquata gibt es nicht mehr", konstatierte Petrucci. Auch die vom Erdbeben am Mittwoch beschädigte Kleinstadt Ussita wurde komplett zerstört.

Symbol des zerstörten Amatrice

In Amatrice, wo die meisten der 298 Todesopfer des Erdbebens vom 24. August beklagt worden waren, kam es zu weiteren Schäden. So stürzte der Turm der Kirche des Heiligen Augustin ein, der beim ersten Erdbeben im August trotz schwerer Schäden noch erhalten geblieben war. Der Turm war zum Symbol des zerstörten Amatrice geworden.

Die EU hat sich indes bereit erklärt, der italienischen Regierung wegen des Erdbebens in Mittelitalien mehr Flexibilität bei den Ausgaben für das kommende Jahr zu gewähren. "Die EU ist bereit, Italien zu unterstützen", sagte der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar Christos Stylianides. Die Regierung in Rom hatte zuvor an die EU appelliert, die Stabilitätskriterien zu lockern. So könnten zusätzliche Gelder in die Erdbebensicherung von Gebäuden fließen, hieß es aus Regierungskreisen. In den EU-Defizitregeln gibt es bereits Ausnahmen bei Naturkatastrophen und Wiederaufbau.

Premier Matteo Renzi bekräftigte den festen Willen seiner Regierung, die zerstörten Gemeinden so schnell wie möglich aufzubauen. "Diese Dörfer sind die Identität Italiens: Wir müssen alles wiederaufbauen, schnell und gut. Wir schaffen das, weil wir alle Italien sind", sagte der Premier. Er versicherte, dass der Wiederaufbau nach Kriterien der Transparenz erfolgen werden. Der Ministerrat tagt am Montagnachmittag, um Soforthilfe für das Erdbebengebiet locker zu machen.

Als provisorische Lösung für Obdachlose will die Regierung in Rom in den kommenden Wochen Containern aufstellen lassen. Hier sollen jene Menschen Unterkunft finden, die nicht in Hotels an der Adria ziehen wollen, wegen des bevorstehenden Winters jedoch nicht in Zelten übernachten können.

Die Container sollen spätestens bis Weihnachten, möglicherweise sogar früher aufgestellt werden, versicherte Renzi bei einer Pressekonferenz am Montagabend in Rom. Er reagierte damit auf Proteste der Bevölkerung in Norcia, die von den Behörden Zelten forderten, um die zerstörte Kleinstadt nicht verlassen zu müssen.

Container seien eine Übergangslösung, meinte Renzi. Bis spätestens im Sommer sollen Holzbungalows aufgestellt werden. Erst danach werde der Wiederaufbau der betroffenen Gemeinden beginnen, erklärte Renzi.

Die Regierung plant innerhalb der kommenden drei Tage ein Dekret, mit dem Ressourcen für Soforthilfe zur Verfügung gestellt werden. Zugleich versprach Renzi die Entsendung von Militärs und Sicherheitskräften zur Kontrolle leer stehender beschädigter Häuser.

Bis zu 36 Milliarden Euro für Sicherung

Nach Angaben von Forschern muss in Mittelitalien im Schnitt alle zehn Jahre mit einem Erdbeben der Stärke 6 und mehr gerechnet werden. Mehr als 50 Prozent der Privatwohnungen in Italien entsprechen nach Berechnungen des Nationalen Ingenieurrats nicht den Sicherheitsbestimmungen. Allein die Erdbebensicherung von Wohngebäuden in den am meisten gefährdeten Gegenden könnte demnach bis zu 36 Milliarden Euro kosten.

Die Schulen blieben am Montag in Rom geschlossen, weil die Gebäude Kontrollen unterzogen werden müssen. Zwei Kirchen wurden aus Sicherheitsgründen geschlossen. Die historische Verkehrsbrücke Ponte Mazzini über den Tiber, die Trastevere mit dem historischen Zentrum verbindet, wurde gesperrt. Ein möglicher Riss wurde untersucht, berichteten italienische Medien.

20 Personen wurden verletzt

Vier Tage nach den schweren Erdstößen vom vergangenen Mittwoch waren die Regionen Marken und Umbrien am Sonntag erneut von einem starken Beben heimgesucht worden. Das Epizentrum des Erdbebens mit der Magnitude 6,5 auf der Richterskala lag unweit der umbrischen Kleinstadt Norcia, Heimat des Heiligen Benedikt, dem Schutzpatron Europas. In der Nacht kam es zu mehreren, teils kräftigen Nachbeben. Das stärkste Nachbeben mit einer Magnitude von 4,2 wurde um 2.27 Uhr registriert.

Bei dem aktuellen Beben vom Sonntag handelt es sich um eines der heftigsten, das je in Italien registriert wurde. Wie der Chef des italienischen Zivilschutzes, Fabrizio Curcio, sagte, soll es das stärkste seit 1980 sein. Die Erschütterung sei eine Folge der verheerenden Erdstöße vom vergangenen Sommer rund um die Bergortschaft Amatrice mit 298 Toten, berichteten Seismologen. Das Erdbeben, das im betroffenen Gebiet für Panik sorgte, war von Bozen bis Neapel zu spüren. Offiziell wurden 20 Personen als verletzt gemeldet, Todesopfer gibt es keine.

In Österreich wahrnehmbar

Das Erdbeben war am Sonntag auch in weiten Teilen Österreichs deutlich bis stark zu spüren, wie der Österreichische Erdbebendienst der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) mitteilte. Die Rückmeldungen stammten "aus Kärnten, dem Inntal, dem Grazer Becken sowie bis hin nach Salzburg und ins Salzkammergut". Die Auslandsösterreicher, die in der größeren Umgebung des Erdbebengebiets in Mittelitalien leben, sind wohlauf, berichtete die österreichische Botschaft in Rom, die mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte.